AZ-Interview Jahrestag OEZ-Anschlag: Er betreute die Familien der Opfer

Der 45-jährige Polizist Alexander Sawa war in der LKA-Sonderkommission OEZ. Seit Ende 2016 ist er alleiniger Koordinator für Betroffenenangelegenheiten.
AZ: Herr Sawa, wann haben Sie von den Ereignissen am OEZ erfahren?
ALEXANDER SAWA: Ich war gerade nach Hause gekommen, als ich gegen 18.20 Uhr von unserem Kriminaldauerdienst verständigt wurde. Ich wurde zur Sammelstelle ins Hauptgebäude bestellt. Dort musste zunächst alles organisiert und die Kräfte eingeteilt werden.
Waren Sie am Tatort?
Ja, etwa zwei Stunden später. Meine Aufgabe war, die Personalien von Zeugen festzustellen und sie zu befragen, was sie gesehen und erlebt hatten.
Hatten Sie da schon Kontakt mit Betroffenen?
Im Grunde waren alle vor Ort, die das miterlebt haben, Betroffene. Ich erinnere mich an eine Frau, die zutiefst erschüttert war. Ein junger Mann war in ihren Armen gestorben.
Wann war Ihr erstes Zusammentreffen mit Angehörigen?
Genau kann ich das nicht mehr sagen. Aber ich denke in der Woche danach. Es gab zunächst telefonische Kontakte. Am Wochenende darauf haben Mitarbeiter des LKA die Angehörigen abgeholt und zur Trauerfeier im Dom und der Gedenkfeier im Landtag gefahren und wieder nach Hause gebracht.
In welcher Verfassung haben Sie die Familien kurz nach der Tat angetroffen?
Die Familien waren teilweise total der Kraftlosigkeit verfallen. Es kam bis hin zum Suizidversuch, nicht nur in einer Familie. Dieses Ausmaß war erschreckend.
Wie bezeichnen Sie selbst Ihre Aufgabe?
Gebräuchlich ist der Begriff Opferbetreuung, ich denke „Koordination von Betroffenen-Belangen“ trifft es besser. Es geht darum, dass man sich der Anliegen der Angehörigen, Hinterbliebenen und Betroffenen annimmt und koordiniert, wo es etwas zu regeln gilt. Damit diese Menschen, die am Rande ihrer Kräfte sind, nicht immer wieder bei Null anfangen müssen. Sie brauchen eine Anlaufstelle, die sie an die richtigen Adressen vermittelt. Auf der einen Seite sind dies Betroffene im Sinne Hinterbliebener und Verletzter. Und es gibt Geschädigte im zivilrechtlichen Sinne, weil beispielsweise ihr Auto angeschossen wurde. Dazu gehört natürlich auch immer der persönliche Kontakt.
Was ist das übergeordnete Ziel?
Das ist die Zuführung schnellstmöglicher Hilfe, um die Folgen der Belastungen zu dämpfen. Dahinter steht auch ein Präventionsgedanke, damit posttraumatische Belastungsstörungen und anderes gar nicht erst entstehen oder sich nicht so stark ausbilden.
Zu welchen Stellen haben Sie vermittelt?
Anfangs waren das vor allem das Kriseninterventionsteam (KIT), Psychologen und Ärzte. Bei der Migrationsambulanz der LMU München hat sich Frau Dr. Mokhtari-Nejad auf besondere Weise der Hinterbliebenen angenommen. Sie war für einige eine ganz große Stütze.
Wie halfen Sie noch?
Etwas später gab es andere Probleme. Manche brauchten eine neue Arbeit, weil es im Job Konflikte gab. Andere haben ganz nah am Ort des Geschehens gewohnt und konnten das nicht ertragen. In diesen Fällen haben Stadt und Staat geholfen, eine neue Wohnung zu finden. Karsten Ebert im Oberbürgermeisterbüro war da ein ganz wichtiger Ansprechpartner und Koordinator bei der Stadt. Bei ihm liefen die Fäden zusammen, er war vielen eine sehr große Hilfe.
Sie waren die zentrale Anlaufstelle für die Betroffenen. Gibt es Vergleichbares in einer anderen deutschen Stadt?
Meines Wissens nicht. Aber es gibt derzeit intensive Gespräche beim Bund und den Ländern. Ausschlaggebend dafür war der Terroranschlag am Breitscheidplatz in Berlin.
Dort fühlten sich die Betroffenen von Behörden allein gelassen. Wer hat veranlasst, dass es in München anders lief?
Das lief mehrgleisig. Der Opferbezug ist zunächst im Einsatzgeschehen entstanden. Als das LKA am zweiten Tag die Ermittlungen übernahm, wurde ein Einsatzabschnitt Betreuung geschaffen. Die Staatsregierung, insbesondere der damalige Ministerpräsident Horst Seehofer, hatte sehr zeitnah das dringende Herzensanliegen, dass man sich dieser Menschen annimmt. Nicht nur im Rahmen einer ersten Soforthilfe, sondern dauerhaft, so lange Dinge zu regeln sind. Dieses Anliegen wurde am ersten Jahrestag mit dem Ministerpräsidenten und Staatssekretär Gerhard Eck, der bis heute ein großer Rückhalt ist, erneuert.
Mehrere Väter konnten nach den Ereignissen nicht mehr arbeiten.
Ja, das hat mehrere betroffen, auch Mütter.
Wie sah mit finanzieller Hilfe aus?
Zunächst gab es einen Fonds der Stadt, eine Art Soforthilfe. Bis Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz gezahlt werden können, mussten erst viele Anträge auf den Weg
gebracht werden. Die Stiftung Opferhilfe Bayern des Justizministeriums unterstützte und später auch das Bundesamt für Justiz.
Gibt es Fragen, die die Angehörigen besonders beschäftigt haben?
Es gibt ganz zentrale Themen, die immer wieder auftauchen. Ganz wichtig war: Gab es eine
Überlebenschance? Waren die Rettungskräfte und die Polizei schnell genug? Hatten sie alles Menschenmögliche unternommen? – Aber auch das Verletzungsmuster wollten viele genau wissen. Es ist eine sehr wichtige Botschaft, dass – laut den rechtsmedizinischen Gutachten – keiner der Getöteten eine Überlebenschance hatte.
Wie geht es den Familien kurz vor dem zweiten Jahrestag?
Seit etwa acht bis sechs Wochen merkt man, dass es ihnen deutlich schlechter geht. Sie sind wieder stärker belastet, zeigen teilweise depressive Züge. Viele sagen, dass sie froh sind, wenn der zweite Jahrestag vorbei ist.
Ist Ihre Aufgabe befristet?
Die Tätigkeit wird ganz bestimmt nicht mit dem zweiten Jahrestag eingestellt, sondern noch aufrecht erhalten werden.
Muss man dafür Polizist sein?
Nein. Das können andere vielleicht sogar viel besser. Ich halte es allerdings für wichtig, dass es eine neutrale Anlaufstelle ist, unabhängig von Organisationen oder politischen Einrichtungen, damit es allein um die Betroffenen geht und nicht um jeweilige Interessen.
Können Sie eine Situation schildern, die Sie sehr berührt hat in diesen zwei Jahren?
Da gibt es einige. Es war über ein Jahr vergangen, als mir eine Angehörige die Tür öffnete und ich sie das erste Mal lächeln sah. Das sind bleibende Momente. Allein dafür lohnt es sich. Vor ein paar Tagen haben mir Angehörige gesagt, dass sie froh sind, dass es jemanden gibt, der für sie da ist und ihnen hilft, weiterzumachen. Das ist schön. Aber ich sehe mich da als letztes Glied einer Reihe von Leuten, die alle versuchen zu helfen. Ich bin nur ein Baustein.
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