AZ-Besuch im Ankunftszentrum: Zwischenstopp Dachauer Straße

Etwa 40 Flüchtlinge aus der Ukraine kommen derzeit pro Woche in München an. Eine Familie aus Irpin reist mit dem schwerkranken Opa. Die AZ zu Besuch im neuen Ankunftszentrum.
von  Nina Job
Endlich in Frieden: Sportjournalist Victor Viniakskayi (54), seine Frau Nataliia (49) und der gemeinsame Sohn Mykhailo (11).
Endlich in Frieden: Sportjournalist Victor Viniakskayi (54), seine Frau Nataliia (49) und der gemeinsame Sohn Mykhailo (11). © Bernd Wackerbauer

München - Sie konnten den bettlägerigen Großvater (84) nicht zurücklassen. Allein im 16. Stock eines Hochhauses, das russische Soldaten beschossen und um ein Stockwerk kürzer gemacht hatten? Ohne Angehörige, ohne Pflege, ohne Wasser, ohne Strom?

Das kam für die Familie nicht infrage. Aber mit dem 84-Jährigen zu flüchten, war für sie monatelang auch keine Option. Er hatte keine Papiere, die Flucht war zu riskant.

Hier gibt's Getränke und Brotzeit für Neuankömmlinge.
Hier gibt's Getränke und Brotzeit für Neuankömmlinge. © Bernd Wackerbauer

Also sind der Sportjournalist Victor Viniakskayi (54), seine Frau Nataliia (49) und der gemeinsame Sohn Mykhailo (11) ebenfalls im völlig zerstörten Irpin geblieben. In dem kleinen Vorort von Kiew, der im Frühjahr im Westen traurige Bekanntheit erlangt hat durch Bilder von Straßen, auf denen gefesselte Leichen lagen.

"Am Anfang war die Stadt völlig überfordert mit der Situation"

Vor wenigen Tagen ist die Familie schließlich doch noch aufgebrochen. In Victors 20 Jahre altem Toyota - mit dem bettlägerigen Großvater auf dem Rücksitz. Wären sie geblieben, hätten sie den Winter in Irpin ohne Heizung überstehen müssen, erzählt Victor der AZ. Die Gasheizung des Hauses ist durch den Beschuss ebenfalls zerstört worden.

Saskia K. und Robert R. registrieren die Flüchtlinge.
Saskia K. und Robert R. registrieren die Flüchtlinge. © Bernd Wackerbauer

Vor zwei Tagen sind die vier nach strapaziöser Flucht in München angekommen. Gerade noch rechtzeitig. Die Mitarbeiter im Ankunftszentrum haben sofort veranlasst, dass der 84-Jährige ins Krankenhaus kommt - Verdacht auf Schlaganfall.

Dass ukrainische Flüchtlinge erst einmal medizinische Hilfe brauchen, ist kein Einzelfall. "Es kommen Rollstuhlfahrer, Behinderte, auch Kriegsverletzte", sagt Claudia Bedau, die Leiterin des Ankunftszentrums.

Im Vergleich zu den Menschenströmen der ersten Wochen sind es heute deutlich weniger. Kamen in den ersten Wochen nach Kriegsausbruch mehrere Hundert, manchmal sogar Tausende Kriegsflüchtlinge am Tag in München an, sind es derzeit etwa 30 bis 40 pro Woche. Manch einer ist auch schon länger da, muss aber eine neue Bleibe finden, weil er oder sie nicht mehr in der bisherigen privaten Unterkunft bleiben kann.

Erste Adresse für Geflüchtete: Dachauer Straße 122

Seit Juni ist die erste Anlaufadresse für Geflüchtete aus der Ukraine die Dachauer Straße 122. Anfangs war das Ankunftszentrum behelfsmäßig im umfunktionierten Hotel Regent am Hauptbahnhof eingerichtet, dann in der Messestadt Riem. Nun ist es dort, wo einst das Goetheinstitut seine Zentrale hatte. Das Gebäude stand zuletzt leer, weil die Brandschutzbestimmungen nicht mehr den Anforderungen entsprachen. Die Stadt hat es renovieren lassen.

Für Flüchtlingskinder gibt es Spielsachen.
Für Flüchtlingskinder gibt es Spielsachen. © Bernd Wackerbauer

Gestern haben Bürgermeisterin Verena Dietl und Sozialreferentin Dorothee Schiwy (beide SPD) die Einrichtung besucht und Bilanz gezogen, was die Stadt in den sechseinhalb Monaten seit Kriegsbeginn auf die Beine gestellt hat. Mehr als 60.000 Kriegsflüchtlinge sind seit Februar am Hauptbahnhof angekommen. 15.500 sind in München geblieben.

Bürgermeisterin Verena Dietl in einem der Zimmer.
Bürgermeisterin Verena Dietl in einem der Zimmer. © Bernd Wackerbauer

"Am Anfang waren wir mit der Situation völlig überfordert", gab Bürgermeisterin Dietl gestern unumwunden zu. Sie betont: "Ohne Freiwilligenengagement hätten wir das nicht geschafft." Die Ukraine-Krise sei auf eine Sozialverwaltung getroffen, "die ohnehin seit zwei Jahren im Ausnahmezustand gearbeitet hat, um die Covid-19-Pandemie und deren Folgen zu bewältigen". Die Stadt habe ein funktionierendes System erst schaffen müssen - und das ohne zusätzliche Mitarbeiter.

Neuankömmlinge müssen nun fast alle in andere Bundesländer

Auch die gesetzlichen Rahmenbedingungen waren andere. Schiwy: "Auf die Flüchtlingskrise 2015/16 konnten wir uns monatelang vorbereiten."

In diesem Raum gibt es die Mahlzeiten.
In diesem Raum gibt es die Mahlzeiten. © Bernd Wackerbauer

Und schließlich musste die Stadt auch komplett neue Aufgaben übernehmen: So musste sie auch für Unterbringungsmöglichkeiten sorgen, wofür bis dahin der Freistaat zuständig gewesen war. Dazu kam die Einrichtung des Ankunftszentrums. Das hat sie nun: 278 Bettplätze in Zwei- und Vierbett-Zimmern gibt es an der Dachauer Straße in Neuhausen. Beratungszimmer mit Spielzeug für die Kinder, einen Speisesaal, der von Caterern beliefert wird, und im Hof Container mit Nasszellen. Die Flüchtlinge werden im selben Haus registriert, betreut und beraten.

Eine richtige Bleibe ist das Haus nicht: Fast alle, die hier ankommen, werden nach ein bis zwei Nächten in andere Bundesländer weitergeschickt. München ist voll. Ob auch die Familie mit dem kranken Großvater weiterreisen muss, hängt davon ab, ob es dem 84-Jährigen bald besser geht.

Claudia Bedau leitet das Zentrum.
Claudia Bedau leitet das Zentrum. © Bernd Wackerbauer

Bleiben dürfen derzeit nur Ukrainer in München, die nicht reisefähig sind oder bereits Verwandte hier haben. Claudia Bedau vom Ankerzentrum: "Wir reißen Familien nicht auseinander."


Wo wohnen die Flüchtlinge?

In der ersten Zeit sind Geflüchtete aus der Ukraine bis zu zwei Monate in den provisorischen Unterkünften wie den Messehallen in Riem geblieben. Im neuen Ankerzentrum in Neuhausen bleiben sie nur ein bis zwei Nächte. Dann reisen die meisten weiter: in andere Bundesländer.

Die Stadt München hat bis gestern mehr als 2.400 Bettplätze neu geschaffen und rund 100 Angebote und Standorte begutachtet.

In Leichtbauhallen sind derzeit etwa 500 bis 600 Frauen, Männer und Kinder aus der Ukraine untergebracht, Platz gäbe es dort für bis zu 1.100 Menschen.Ziel der Stadt ist es, insgesamt 5.625 Bettplätze zu schaffen, davon 4.500 längerfristige. Dafür sollen im kommenden Jahr an vier Standorten in der Stadt. Container für Geflüchtete aufgestellt werden, sechs weitere bis Anfang 2024.

Seit 9. März sind insgesamt 167 unbegleitete ukrainische minderjährige Flüchtlinge in München angekommen. Sie werden im Young Refugee Center (42 Plätze) betreut. Weitere Plätze für sie gibt es in der Kistlerhofstraße. Im ehemaligen Hotel Regent am Hauptbahnhof sind derzeit vor allem "vulnerable Personen" untergebracht.

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