Auswahltest für angehende Soldaten in München: Bald mehr beim Heer?

München - Da sitzen sie also nun in der Aula über der Kantine, 22 junge Männer und zwei junge Frauen. Gelegentlich raschelt eine der Wurstsemmeltüten, die Patrick, Ramona und die anderen auf der Treppe noch als "Marschpackerl" in die Hand bekommen haben wie im echten Soldatenleben, wenn es auf eine lange Reise geht.
Hauptmann Hanisch: "Wir machen das hier nicht, weil wir Uniform tragen wollen"
Und dann sagt Hauptmann Max Hanisch, der in Gebirgsjäger-Camouflage auf der Bühne steht, das Eiserne Kreuz der Bundeswehr auf der Leinwand im Rücken: "Wir machen das hier nicht, weil wir Uniform tragen wollen. Wir haben einen Auftrag. Die Bundesrepublik Deutschland zu beschützen. Unsere Partner zu beschützen." Mit allen Risiken. Auch Verwundung vielleicht. Oder Tod.
Es ist der erste von zwei Prüfungstagen im Karrierezentrum an der Dachauer Straße, der militärischen Rekrutierungsstelle der Bundeswehr in München. "Assessment" heißt das hier, weil die Prüflinge nicht nur Vorträge hören, Fragen stellen und in Militärfahrzeugen probesitzen. Sie müssen vor allem einen kleinen Marathon an Tests durchlaufen, um ihre Eignung für die Truppe zu beweisen.
Mechaniker, Cyberprofi, Arzt - kann man bei der Truppe alles lernen
Noch bis vor einem Vierteljahr haben junge Menschen oft nur milde gelächelt, wenn die Rede auf die Bundeswehr kam. Zu der Problemtruppe? Mit der maroden Ausstattung? Und überhaupt, zur Waffe greifen?

Seit aber Russland die Ukraine angegriffen hat und sich auch hierzulande die Sorge breitmacht um die eigene Sicherheit, scheint sich etwas zu verändern. In den ersten Tagen des Krieges sei die Zahl der Anrufe im Münchner Karrierezentrum sprunghaft angestiegen, sagt Oberst Uwe Zinsmeister, der die Dienststelle leitet, "wir müssen sehen, wie viele Bewerber daraus werden."
Was junge Leute anziehe: Man kann bei der Bundeswehr beinahe jede Ausbildung machen, vom Mechaniker über den Arzt bis zum Cyberexperten. Sogar Hundestaffelführer gibt es in der Truppe. Nur habe man da gerade keinen Bedarf. Bei den Transport- und Logistikprofis und IT-Experten schon.
Draußen im Hof bauen derweil Soldaten, die aus bayerischen Kasernen angefahren sind, schweres Gerät für die angehenden Rekruten auf. Man darf einsteigen, herumschauen, den Soldaten Fragen stellen.
Das Informationstechnikbataillon 293 aus Murnau ist da mit einem 7,5-Tonner in Tarnfarben. Die Gebirgsjägerbrigade 23 aus Mittenwald samt Zwölftonner, der Munition, Nahrung oder Ersatzteile auch bis hoch in die Berge transportieren kann. Und das Fernmeldebataillon aus Veitshöchheim, dessen Zelt unter einem Tarnnetz verschwindet.
Patrick: "Die Bundeswehr ist für mich die beste Möglichkeit, aufzusteigen"
Neugierig nähern sich die jungen Leute. "In der Feldwebellaufbahn, schraubt man da bei euch noch in der Werkstatt?", will ein Proband wissen, der ausgelernter Kfz-Mechaniker ist. "Wir sind keine Teiletauscher", bekommt er als Antwort, "bissl was musst schon reparieren können."
Patrick (27), Speditionskaufmann aus Passau mit Sonnenbrille im Haar, will sich als Logistiker bewerben. "Wenn es gut läuft, kann ich als Stabsunteroffizier einsteigen", sagt er, und: "Die Bundeswehr ist für mich die beste Möglichkeit, aufzusteigen." Sport, Abwechslung, auch Einsätze im Ausland wie in Mali, das klinge alles gut für ihn. Da womöglich verwundet zu werden, mache ihm keine Angst. "Es sterben mehr Deutsche im Straßenverkehr als im Auslandseinsatz", sagt er. Dennis (26), der in verschiedenen Handwerksberufen gearbeitet hat, aber in keinem froh geworden ist, will eine Berufung finden, in der er "fest auf dem Boden" stehe.
Interessentin Ramona: "Ich bin hart im Nehmen"
Und dann seien da die Freunde, die er in der Ukraine hat, einer sei an der Front. "Die Gefahr, dass auch wir angegriffen werden, kommt ja immer näher", sagt er. "Ich glaube, es sollte sich auch jeder bei uns mit Waffen zu helfen wissen. Sonst bleibt dir ja nur, davonzulaufen."
Davonlaufen will auch Ramona (19) im lila Pulli aus Pfaffenhofen nicht, eine der beiden jungen Frauen. Sie sei schon beim Jugendrotkreuz im Einsatz gewesen, erzählt sie. Und jetzt wolle sie zum Sanitätsdienst der Bundeswehr. Den Gedanken habe sie mit 15 schon gehabt, angeregt vom Bruder, der Soldat ist. Und jetzt erst recht, "seit dem Krieg in der Ukraine".
Sich viel unter Männern bewegen? "Finde ich gut", sagt sie, "da ist weniger Zickenkrieg." Dahin müssen, wo gekämpft wird, wo Verwundete sind? "Sowieso. Ich bin hart im Nehmen."
32 Stuben im ersten Stock: Üben fürs Kasernengefühl
Die Auswahltests starten kurz nach dem Wecken um halb sechs am nächsten Morgen. Die Nacht haben die 24 Prüflinge im "Gebäude 20" verbracht, ein Altbau aus den 1930er Jahren gleich neben dem Truppendienstgericht auf dem Gelände. 32 Stuben im ersten Stock, je zwei schmale Betten, Tisch, Stühle, Schrank - hier kann man schon mal üben fürs Kasernengefühl.
Draußen strahlt die Sonne über dem Garten mit Kastanien in der Wiese, drinnen steigt die Anspannung. Ärzte untersuchen die Bewerber, suchen im Urintest nach Spuren von Drogen - und vergeben Punkte, die klären, für welche von rund 350 Aufgabenfeldern bei der Truppe jemand diensttauglich ist.
Oberst Zinsmeister: "Wir wollen wissen, wer zu uns will. Und wir wollen die Besten"
Es folgt ein Computertest namens CAT, eine Art Intelligenztest auch mit Fragen zu Allgemeinbildung, Mathe, Logik und Deutschlands Geschichte - und eigenen Haltungen dazu. Dann kommt der vielleicht schwierigste Moment: das Gespräch mit einem Prüfungsoffizier, das eine Psychologin begleitet.
Hier wird der Lebenslauf beleuchtet, die Motivation, Brüche in der Vita - und natürlich Fragen wie: Würde man schießen in einer Kampfsituation? Hat man verstanden, dass Soldat sein auch heißt, im Dienst zu Tode kommen zu können? "Wir schauen genau hin, in jeder Hinsicht", sagt Oberst Zinsmeister, "wir wollen wissen, wer zu uns will. Und wir wollen die Besten."
Ramona hat sich auf zwei Jahre verpflichtet, Patrick will länger bleiben
23 Bewerberinnen und Bewerber werden es am Ende geschafft haben. Ramona hat sich auf zwei Jahre verpflichtet, im Herbst geht's für drei Monate zur Grundausbildung in eine bayerische Kaserne. Dann beginnt die Sanitätsausbildung, Auslandseinsatz nach einem Jahr nicht ausgeschlossen. Patrick will sich auf zehn oder zwölf Jahre festlegen, als Logistiker.
Am Abend endlich fahren alle nach Hause. Die Marschpackerl für die Reise dürften schnell verdaut sein. Die Eindrücke vermutlich noch lange nicht.
Blick in die Statistik: 20.000 Rekruten jedes Jahr
Ende März zählte die Bundeswehr 183 730 aktive Soldatinnen und Soldaten (darunter rund 56.000 Berufs-, 119.000 Zeitsoldaten und 9.000 freiwillig Wehrdienstleistende; knapp 13 Prozent sind Frauen).
Gut ein Drittel arbeitet beim Heer, rund 15 Prozent bei der Luftwaffe, knapp neun bei der Marine, rund elf beim Sanitätsdienst und knapp acht Prozent beim Kommando Cyber und IT (CIR), das Angriffe aus dem Internet abwehren soll. Jedes Jahr sucht die Bundeswehr 20.000 neue Rekruten, so viele, wie jährlich aus dem Dienst ausscheiden. Im Karrierezentrum München (eins von sieben mit Assessment in Deutschland) haben sich letztes Jahr 4,225 junge Leute beworben, 3.641 wurden eingeladen, 3.103 sind dort erschienen. Davon wurden 2.576 als geeignet eingestuft.