Auf und nieder - nimmer wieder: Droht Paternostern das Aus?
München - Er brauchte diese Angst, wie andere ihren Kaffee, ihren Haferbrei oder ihren Fruchtsaft brauchen. Diese viereinhalb Sekunden, in denen er sich fürchtete und auf die einzige unverputzte Stelle des ganzen Hochhauses starrte. Jenen Fleck, der die Umkehr bedeutete, die Wende vom Heben zum Senken. Wenn er diese Angst morgens nicht spürte, war Doktor Murke den ganzen Tag grantig.
Die Figur aus Heinrich Bölls Kurzgeschichte „Doktor Murkes gesammeltes Schweigen“ pflegt eine Hassliebe zu dem Paternoster an ihrem Arbeitsplatz, einem fünfstöckigen Funkhaus. Denn obgleich es ihm bei jeder Fahrt über den Scheitel ausgiebig grauste, konnte Murke nicht auf diese „existenzielle Turnübung“ verzichten. Jeden Morgen stand er wieder vor dem Gerät, dem Paternoster, auch Personenumlaufaufzug genannt. Einer behäbigen aber beharrlichen Einrichtung. Sie dreht und dreht sich, bis dass der der Hausmeister sie abschaltet. Oder die Regierung.
Genauer: das Bundesarbeitsministerium unter Führung von Andreas Nahles (SPD). Die Ministerin hält Paternoster für zu gefährlich. Deshalb hat sie eine neue Betriebssicherheitsverordnung ausarbeiten lassen. Demnach ist der öffentliche Betrieb eines Paternosters schon ab dem 1. Juni verboten.
Mit einem Umlaufaufzug darf dann nur noch eingewiesenes Personal fahren. Leute mit Paternoster-Führerschein quasi. Auflagensündern droht ein Bußgeld. Das heißt, dass man in öffentlichen Gebäuden kontrollieren müsste, wer jetzt nachweislich befähigt und befugt ist, sich einer Verbringung durch den Paternoster auszusetzen.
Unmöglich, sagt Cornelius Mager, der Chef der Münchner Lokalbaukommission. Er fährt gern Paternoster. An seiner Arbeitsstelle, dem Städtischen Hochhaus an der Blumenstraße 28b, ist noch einer in Betrieb. Vorerst aber bloß noch ein paar Tage, dann wird er abgeschaltet. „Das Gebäude ist öffentlich zugänglich und man kann ja nicht überwachen, wer den Paternoster betritt“, sagt Mager. Also hat es sich in wenigen Tagen erst einmal ausgedreht.
Ein Frevel, findet Mager. Er ist Beisitzer im Münchner Verein zur Rettung der letzten Personenumlaufaufzüge, der schon einmal für den Erhalt der Paternoster kämpfen musste. Nachdem die Bundesregierung schon 1972 beschlossen hatte, dass keine neuen Paternoster gebaut werden dürfen, sollten sie Anfang der Neunziger ganz verboten werden. Es formierte sich Widerstand und der Bundesrat kippte die Verordnung.
Schließlich ist ein Paternoster ja nicht bloß ein Fortbewegungsmittel. Dass es über seinen praktischen Nutzen hinaus Anlass zum Sinnieren gibt, zeigt ja schon sein Name. Er geht zurück auf den katholischen Rosenkranz, wo auf zehn kleine Perlen für je ein Ave Maria eine große für ein Vaterunser, also ein Pater noster folgt. Die Kabinen im Umlaufaufzug sind ebenso aufgefädelt, werden aber nicht von den Fingern frommer Gläubiger, sondern von einem elektrischen Antrieb zum Rotieren gebracht.
Früher auch mal von Dampfmaschinen. Einer Urkunde des Kaiserlichen Patentamts zufolge feiert der Paternoster in Deutschland nächstes Jahr 120. Geburtstag. In England gab es sie schon ein wenig eher.
Seither laufen die Dinger. Auf und nieder, immer wieder. Nach oben und nach unten, aber trotzdem immer nach vorn und nie zurück. Wenn das nicht gar philosophisch ist. Am Anfang mussten einfache Arbeiter noch getrennt von höheren Angestellten durch die Stockwerke gleiten. Der Paternoster war der „Proletenbagger“ während die Chefs in einem eigenen, geschlossenen Aufzug, dem „Bonzenheber“ fuhren. Der „Umlaufaufzug“ ist also auch ein Hauch von Klassenkampf zwischen den Stockwerken. Ein Industriedenkmal ist er obendrein.
Und in München ist er vor allem: noch erlebbar. In der Stadt sind noch acht Paternoster in Betrieb, einige davon sind öffentlich zugänglich (siehe Kasten). Andere werden vor allem intern genutzt, etwa der Paternoster im Münchner Polizeipräsidium. Dort ist man über die neue Verordnung informiert. Für die Beamten ändert sich wenig: „Die Mitarbeiter, die hier beschäftigt sind, werden eingewiesen und bestätigen das schriftlich. Dann können sie weiterfahren“, sagt Polizeisprecher Peter Beck. „Für Besucher des Polizeipräsidiums wird aber ein Schild angebracht, dass nur eingewiesene Personen mit diesem Paternoster fahren dürfen.“
Eine Stadträtin schimpft: „Man kann alles übertreiben!“
Auch die Boston Consulting Group (BCG) hat in ihren Geschäftsräumen in der Ludwigstraße einen Paternoster. Und auch hier ist der historische Aufzug dann für Besucher tabu. Für die nötige Sicherheit sorge man bisher schon, sagt eine BCG-Sprecherin: „Es gibt bei uns im Haus mehrere Paternoster-Beauftragte, von denen immer einer anwesend sein muss.“ Die Beauftragten seinen vom Tüv geschult.
Wenn die neuen Richtlinien gelten, würden sie weitergebildet: „Falls nötig, können auch alle rund 500 Mitarbeiter der Firma am Standort München in die neuen Sicherheitsrichtlinien eingewiesen werden.“
In der Stadtpolitik will man die neue Verordnung nicht hinnehmen. Schließlich sei sie ein Grampf, und einen solchen brauche man nicht. „Man kann alles übertreiben!“, schimpft die SPD-Stadträtin Ulrike Boesser. Paternoster seien im Vergleich recht ungefährlich. „Es wäre schade, wenn diese charmanten Überbleibsel aus einer anderen Zeit stillgelegt würden.“ Die Münchner SPD-Chefin Claudia Tausend wolle sich daher in Berlin dafür einsetzen, dass die Paternoster auf künftig öffentlich fahren dürfen.
Auf und nieder, nimmer wieder – das wäre ewig schade. Darum wollen die Paternoster-Fans in München aber auch in Städten wie Hamburg oder Stuttgart für ihr potenziell unendliches Fahrerlebnis kämpfen und die Arbeitsministerin dazu bringen, die Verordnung zu ändern. Und wer Paternoster mag, der dürfte dafür genügend Geduld mitbringen.
Denn Paternoster sind auch: langsam. Aber halt beständig, vorhersehbar, ja fast treu. Doktor Murkes Grausen ist verlässlich. Das nostalgische Schmunzeln der meisten anderen Fahrgäste aber auch.