Auf Rezept: Schrott vom Arzt!

München - Sie kennen sich, seit sie Teenager sind. Erich Neuhauser und seine Frau. Die Seniorin ist die große Liebe des Münchner Rentners. Sie leidet unter einer chronischen Krankheit, hat Atemprobleme, braucht täglich zusätzlichen Sauerstoff und eine sogenannte Atemhilfe.
Trotz Rezept: Aufpreis für Atemhilfe-Gerät
Anfang des Jahres war Frau Neuhauser einige Tage im Krankenhaus. Ihre Atmung hatte sich verschlechtert. "Der behandelnde Arzt hat ihr ein Atemhilfe-Gerät verschrieben", erzählt Neuhauser. Also packte er das Rezept ein, um die handgroße Plastiktube zu holen, die man auch mit einem zu groß geratenen Zahnseiden-Behälter verwechseln könnte.

106 statt 49,49 Euro für die Atemhilfe? Das sieht Neuhauser nicht ein Neuhauser steuerte das nächste Münchner Sanitätshaus an und legte das Rezept vor. Er weigerte sich vor Ort aber, die Atemhilfe zu kaufen. Der Grund: Neuhauser sollte für das sogenannte Hilfsmittel einen satten Aufpreis bezahlen. Dabei war ihm gesagt worden, dass die Krankenkasse die vollen Kosten übernimmt: 49,49 Euro – der katalogisierte Preis. Keinen Cent mehr sollte das sogenannte PEP-Mundsystem kosten. Doch das Sanitätshaus verlangte 106,01 Euro. Dabei ist laut Regularien der Krankenkasse AOK in den 49,49 Euro bereits eine Gewinnmarge von zwölf Prozent für den Verkäufer einberechnet.
Rentner wittert Betrug - liegt aber nicht vor
Mehr als doppelt so viel bezahlen? Das sah Neuhauser nicht ein. Er witterte Betrug. Doch der lag nicht vor. Dafür zeigte sich, wie kompliziert die Lage bei ärztlich verschriebenen Hilfsmitteln ist.
Warum hatte die Orthopädie-Technik den hohen Preis aufgerufen? Ein Gespräch mit der AOK zeigt: Das war kein Einzelfall. Der behandelnde Arzt hatte nämlich nicht das Grundmodell der Atemhilfe per Rezept verschrieben, sondern ein höherwertiges. Statt "Grundhilfsmittel PEP Mundsystem" stand da auf Neuhausers Rezept "RC-Cornet, Art. Nr. 30" , eben für über 100 Euro. Das hätte er theoretisch nicht gedurft, sagt die Sachbearbeiterin. Ist aber wohl häufige Praxis.
Arzt verschrieb nicht Grundmodell, sondern höherwertiges Atemhilfe-Gerät
Neuhauser bekam letztlich die Atemhilfe für seine Frau über ein neues Rezept. Ganz ohne Aufpreis. Bleibt die Frage, warum der Arzt ein teureres Modell verschrieb, was er laut Krankenkasse gar nicht durfte?
Der Leiter eines Münchner Sanitätshauses kennt die Antwort: "Viele Hilfsmittel entsprechen nicht unseren Mindestqualitätsstandards", sagt der Mann, der anonym bleiben möchte, "da verschreiben die Ärzte Produkte, deren Kosten die Krankenkasse zwar nicht voll übernimmt, mit denen sie aber gute Erfahrungen gemacht haben." Der Patient kann nur das teurere Gerät kaufen, das auf dem Rezept verzeichnet ist. Will man das günstigere, muss ein neues Rezept her.
Sind Produkte, die gesetzliche Krankenkassen derzeit voll erstatten, also häufig Schrott oder zumindest nicht brauchbar? Darauf deutet auch ein Rollatoren-Test der Stiftung Warentest hin. Rollatoren gelten ebenfalls als Hilfsmittel. Doch die Kassenmodelle sind offensichtlich kaum zu empfehlen. Sie seien "draußen kaum zu gebrauchen", schreibt die Stiftung.
Inkontinenz-Einlagen: Kassenmodelle haben angeblich kaum Saugkraft
Der Leiter des Sanitätshauses nennt ein weiteres Produkt: "Besonders gravierend ist die Lage bei Inkontinenz-Einlagen. Die Kassenmodelle haben kaum Saugkraft. Wir raten hier grundsätzlich immer zu den teureren Einlagen." Auch bei verschriebenen Beinschienen sei die Lage ähnlich. "Hier drücken die Kassenmodelle schmerzhaft. Wir verkaufen ausschließlich die Produkte eines bestimmten Herstellers. Sonst haben wir kein gutes Gewissen." Ein Gespräch mit dem Sozialverband VdK bringt noch mehr Klarheit. Durch die Regelung, die noch bis zum 11. Mai gültig war und nachwirkt, komme es zum Preisdumping. Sie beruhte auf dem Wettbewerbstärkungsgesetz von 2007 (GKV-WSG). Es erlaubte Krankenkassen, Ausschreibungen für diejenigen Produktreihen anzusetzen, deren Kosten sie übernehmen. Das hatte jahrelang gravierende Folgen.
"Dadurch wurde nicht das beste Produkt von der Kasse bezahlt, sondern häufig das günstigste", sagt VdK-Sprecherin Bettina Schubart, viele Hilfsmittel-Standards seien schlicht schlecht. Bei Standard-Inkontinenz-Einlagen steige für Pflegebedürftige sogar die Gefahr, sich wund zu liegen. "Häufig werden auch Hörgeräte-Grundmodelle bemängelt", so Schubart.
32.500 Produkte umfasst der momentane Hilfsmittelkatalog. Viele wurden laut VdK mit der Zeit ersetzt, weil sich Patienten besonders häufig beschwerten. Nicht die ganze Palette ist also Schrott, aber vieles. Patienten zahlen dann (lieber) drauf. Bei dem Gerät, das Erich Neuhauser für seine Frau gekauft hat, bestanden keine Probleme. Auch das Standardmodell hilft offenbar gut.
Gesetz kommt: Krankenkassen müssen reagieren
Ein Gesetz, um den Missstand zu beheben, ist bereits beschlossen. Am 11. Mai trat es in Kraft. Das Gesundheitsministerium brachte das sogenannte Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) auf den Weg.
Die Änderung bezüglich der Hilfsmittel ist simpel, soll aber einen großen Effekt haben: Künftig ist es Krankenkassen – mit einer Übergangsfrist von sechs Monaten, bis etwa Jahresende – verboten, den Produkt-Standard im Hilfsmittelkatalog per Ausschreibungen festzusetzen. Das soll ausschließlich mithilfe von Rahmenverträgen geklärt werden.
Ob das Gesetz den gewünschten Effekt haben wird, wird sich nach der Übergangsfrist zeigen. Der Leiter des Sanitätshauses ist jedenfalls zuversichtlich: "Die Krankenkassen sind bereits mit den fünf großen Sanitätsverbänden wie 'Sanitätshaus Aktuell' in Kontakt getreten, um mit ihnen Verträge auszuhandeln, wie es schon vor 2007 der Fall war. Ich erwarte ab 2020 eine spürbare Verbesserung der Qualität."
Doch er weiß auch: "Die Hilfsmittel-Hersteller, die seit 2007 langfristige Ausschreibungen gewonnen haben, werden alles dafür tun, dass sie entschädigt werden. Ich erwarte sehr viele Gerichtsverfahren gegen die Krankenkassen."
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