Architektur-Experte im AZ-Interview: München wird ein anonymes Hotel

München - Als dreifachen Familienvater treibt ihn das Thema "fehlende Familienwohnungen" um. Johannes Ernst (51) von Steidle Architekten in Schwabing. Der Münchner Architekt ist auch Chefplaner des Werksviertels am Ostbahnhof.
AZ: In München fehlen Single-Wohnungen, heißt es immer wieder. Sie widersprechen: Familienwohnungen fehlten noch viel mehr.
JOHANNES ERNST: Am freien Wohnungsmarkt haben Kapitalanleger jahrelang an den Bedürfnissen vorbeigebaut. Es fehlt an Wohnungen in allen Kategorien. Doch insbesondere in der Innenstadt verankerte Menschen, die sich vorstellen können, dass ihre Kinder in der Stadt großwerden, sehen sich – mit zwei oder drei Kindern – oft gezwungen, München zu verlassen.
Noch vor 20 Jahren wollten die meisten Familien, dass ihre Kinder mit einem Garten großwerden.
Damals war das eine reflexhafte Entwicklung. Das hat sich aber stark geändert. Wir müssen wieder lernen, dass es einen großen Bedarf nach städtischen Wohnungen für Familien gibt. Gerade für die neuen Zusammenhänge, wie moderne Patchworkfamilien oder gleichgeschlechtliche Elternpaare. Familien gibt es in sehr unterschiedlichen und interessanten Formen.
Ernst bemängelt die wachsende Versingelung
Laut Statistik ist in München jedoch der Bedarf an Ein-Zimmer-Wohnungen besonders groß.
Alleinstehende kommen zur Ausbildung nach München, für Praktika oder zum temporären Arbeiten für einige Monate. Deswegen werden jetzt so viele Boardinghouses in der Stadt gebaut.
Die wachsende Versingelung kritisieren Sie scharf.
Es ist eine Frage der Konzeption, ob man der Statistik folgt oder ob man einen kreativen Prozess in Gang bringt: Kann es gut sein, wenn München 70 Prozent Singleanteil hat? Wie wollen wir unsere Stadt zusammensetzen?, ist die richtige Frage.
Ihre Analyse: Wenn München stark von Singles genutzt wird und von Menschen, die nur temporär da sind, funktioniert die Stadt weniger wie ein Gemeinwesen, sondern wie ein anonymes Hotel...
Zunächst sind in der Stadt natürlich alle willkommen. Es geht ja nicht darum, eine Bevölkerungsgruppe gegen die andere auszuspielen. Die Frage ist, wie wir einen gesunden und spannenden Mix hinbekommen. Die soziale Struktur, die Stadtgesellschaft, funktioniert auf Dauer nur, wenn ein großer Anteil der Bevölkerung über einen langen Zeitraum die Stadt trägt, pflegt – und sich mit München identifiziert. Das sind Menschen, die beispielsweise in Kindergärten und Schulen verankert sind, Stadtbürger, die sich politisch betätigen, vielleicht im Sportverein mitmachen und die Stadtbibliotheken nutzen.
Sie fürchten um das Gemeinwesen?
Ja, denn im hochpreisigen München werden laufend aus vier großen Wohnungen acht Kleine gemacht. Das wirft mehr Geld ab, gefährdet aber die Zusammenhänge.
Mit Ihrer Frau und drei jugendlichen Kindern wohnen Sie in einer Altbauwohnung im Lehel: im vierten Stock ohne Aufzug. Wie ist das so?
Dazu braucht es eine extrem taffe Mutter und einen belastungsfähigen Vater. Inzwischen können sich alle Kinder selbst die Treppe hochtragen. Sie helfen auch die Lebensmittel tragen. Wasser gibt es bei uns meist nur aus dem Wasserhahn. Wir bekommen die Öko-Kiste geliefert. Bestellungen im Supermarkt haben wir ausprobiert. Doch als der Lieferant bei uns oben angekommen ist, ist er fast kollabiert.
Immer mehr Familien müssen ins Umland auswandern
In Ihrem Bekanntenkreis erleben Sie eine „erzwungene Stadtflucht“.
Ich kann ihnen auf Anhieb zehn Familien nennen, die aus Mangel an einer großen oder angemessenen Wohnung aus der Stadt weggezogen sind. Jetzt pendeln sie nach München hinein, etwa weil die Tochter hier noch beim Ballett angemeldet ist. Wir wissen alle, wozu das führt.
Selbst wären Sie fast nach Gräfelfing rausgezogen...
Aber im Lehel werden wir belohnt mit einer schönen Wohnung und mit einem tollen Blick. Hier ist noch diese Mischung: die alte Nachbarin mit ihrem Dackel. Die drei Geschwister, die in Batman-Verkleidung um den Block rasen: arm, reich, durchschnittlich. Oder der Obdachlose, der unter der Isarbrücke wohnt und mitversorgt wird. Auch ist es gut fürs Viertel, wenn Kinder vor Ort sind. Denn: Je weniger Kinder, desto weniger Streiche werden gespielt.
Wien, Zürich oder Kopenhagen machen beim Thema Familienwohnungen vieles besser.
In Wien ist nach wie vor die Stadt der größte Vermieter. Der kommunale geförderte Wohnungsbau investiert in große Projekte. Ich weiß, dass in der Schweiz sehr stark die Mischung reflektiert wird. Es wird versucht mit größeren Wohnungen einen bestimmten Typ von Bewohnern in der Stadt zu halten.
Für München stellen Sie fest: „Die Programme sind so unglaublich langweilig, die hinter der dann langweiligen Architektur stehen.“
Achtzig Prozent aller Wohnungen, die gebaut werden sind Zwei- und Drei-Zimmer-Wohnungen. Die lassen sich gut vermieten und vor allem als Kapitalanlage verkaufen. Die ebenfalls benötigten größeren Wohnungen werden bei den aufgerufenen Preisen einfach zu teuer für die Kapitalanleger. Es wiederholen sich so die gleichen Wohnungstypen mit einer niedrigen Geschosshöhe und einem Zehn-Quadratmeter-Kinderzimmer. Was für ein starkes Maß an Wiederholung und Gleichförmigkeit! Das wirkt, wie wenn ich in einer Landschaft nur Mais pflanze. Und so sieht die Stadt dann eben aus.
Stirbt das Gemeinwesen in München langsam aus
Bitte erklären Sie die Entkopplung: Wie kommt es, dass die Wohnraum-Produktion nichts mit dem Bedarf zu tun hat?
Wenn die Landeshauptstadt Baurecht schafft, zum Beispiel ein Gewerbegebiet in ein Wohngebiet umwandelt, hat sie natürlich alle Mittel und alle Möglichkeiten Einfluss zu nehmen, wie der wertvolle Grund genutzt wird. Das Versäumnis der Politik war, zu sehr den Profis der Immobilienwirtschaft und ihrer Logik mit den bereits beschriebenen Auswirkungen zu folgen. Demgegenüber wird löblicherweise der geförderte Wohnungsbau gesetzt.
Auf der Strecke bleibt – zwischen den Extremen an beiden Enden – aber die sehr breite Mitte der Stadt.
Was wir in München wie bauen – darüber sollte eine Diskussion über die gesamte gesellschaftliche Breite einsetzen.
Vom bewohnbaren Erdgeschoss zum lebendigen Erdgeschoss: Sie schlagen vor, zur Förderung von kleinen Läden mit günstigen Mieten Bauträgern zu erlauben oben noch ein Stockwerk draufzusetzen...
Der kleine Laden an der Ecke stirbt. Aber wegen der Geschäfte kommen Leute gerne ins Viertel. Die muss man also fördern, wie man Wohnungen fördert. Im EG könnten auch offene Künstlerateliers sein. Alles ist besser, als eine Wohnung, in der den ganzen Tag über der Vorhang zu ist. Sind die Schotten dicht, weil viele Leute den ganzen Tag in der Arbeit sind, ist das stadtzerstörend.
Ihre Prognose?
Wenn wir so weitermachen, verwandelt sich die Stadt langsam in ein Riesen-Hotel – in dem das Gemeinwesen und die Lebendigkeit auf der Strecke bleiben.