Architekt Leonard Steidle im Interview: Wie kann München besser bauen?

München - Der Architekt Otto Steidle stammte von einem Bauernhof in Milbertshofen. Er gilt als einer der bedeutendsten Münchner Architekten, war Professor und Leiter der Münchner Kunstakademie. 2004 ist er gestorben.
Architekt Steidle über München: "Die Stadt ist wunderschön mit tollen Angeboten in der Natur"
Seit zwei Jahren arbeitet Leonard Steidle im Büro, das sein Vater gegründet hat. Steidle Architekten hat 45 Mitarbeiter in Schwabing. Der 35-Jährige hat in Berlin Architektur studiert. Er arbeitet gerade als Projektleiter für ein Baugebiet in Taufkirchen. Städtevergleiche mag er nicht.
AZ: Herr Steidle, wie gefällt Ihnen München auf einer Skala von zehn für "gut" bis 1?
LEONARD STEIDLE: Eine acht oder eine sieben gebe ich München. Ich bin im Lockdown von Berlin gekommen. München war damals in einer Ausnahmesituation und hat sehr kreativ und flexibel reagiert. München ist zwar keine kleine Stadt, lässt sich aber besser übersehen. Die Stadt ist wunderschön mit tollen Angeboten in der Natur.
Leonard Steidle: "Die Wertschätzung von Architektur ist deutschlandweit nicht so verbreitet"
Welche Gebäude mögen Sie?
Den Komplex des Deutschen Museums, der von der Isar umspült wird. Letztendlich ist der Gasteig ganz cool. Es ist ein bisschen schade, dass er komplett umgebaut wird. Die Idee von einem rauen und rohen Kulturpalast finde ich gut. Außerdem gibt es gegenüber dem Museum Brandhorst tollen Wohnungsbau aus den 50er Jahren von Sepp Ruf: licht, sympathisch, modern. Im Haus ist eine Eisdiele.

Legoartige Neubaugebiete, weiße Schuhschachteln mit Flachdach. Neue Häuser in München gelten als langweilig. Was meinen Sie?
Vieles ist sehr streng, auch monoton. Das hat viel mit den Rahmenbedingungen, Vorgaben und Wünschen zu tun, die an die Architekten herangetragen werden. Die Wertschätzung von Architektur und die Debatte über Qualität ist deutschlandweit nicht so verbreitet.
Steidle: "In München sollte die Stadt Grundstücke für Genossenschaften bereithalten"
Wie kann eine bessere Architektur gelingen?
Es müssen Anreize her, damit Architekten sich etwas trauen! Frankreich macht es vor. Bei Wettbewerben für den Wohnungsbau werden gezielt junge Büros eingeladen. Das könnte die Stadt München auch machen - alle Büros für ihre Teilnahme am Wettbewerb bezahlen. Das regt Architekten an, wirklich etwas zu wagen. Wenn die Arbeit für den Entwurf nicht bezahlt wird, spielen alle auf Sieg und trauen sich viel weniger. Damit wird der Entwurf - und später das Gebäude - automatisch angepasster.
Architekt Steidle: Darum geht's beim Umgang mit Fertigbetonteilen
In Wien gibt es das Modell: Bauherr und Architekt überlegen sich gemeinsam ein Konzept - damit bewerben sie sich für ein Grundstück.
Es macht mir ja keinen Spaß, Städte zu vergleichen, doch von Wien kann man etwas lernen. In München sollte die Stadt Grundstücke für Genossenschaften bereithalten. Das hat sich bewährt. Genossenschaften planen für einen langen Zeitraum. Ich möchte unbedingt das Genossenschaftshaus San Riemo in Riem kennenlernen, das den Preis des Deutschen Architekturmuseums bekommen hat.
Ein Grund für den Preis war die Verwendung von Fertigelementen.
Im sozialen Wohnungsbau und im niedrigpreisigen Wohnungsbau sind Fertigelemente im Kommen. Schon mein Vater hat die Genter Straße 13 in den 70er Jahren mit Fertigbetonelementen gebaut, an die man beliebig anbauen konnte. Es geht bei Fertigteilen um Effektivität, Kosteneinsparung und Nachhaltigkeit im Umgang mit den Ressourcen.
Architekt Steidle: "Sand ist weltweit immer mehr Mangelware"
Haben Sie bereits mit Recycling-Beton gearbeitet?
Noch nicht. Denn hochwertiger Beton ist zermahlen nicht der Baustoff der Zukunft. Die Herstellung von Recycling-Beton bleibt zu CO2-intensiv. Um zerkleinerten Abbruch-Beton wiederzuverwerten, braucht es eine ganze Menge Zement. Und Sand ist weltweit immer mehr Mangelware. In Dubai und Indien gibt es eine Sandmafia, denn Wüstensand ist für Beton ungeeignet. Holz und Stahl erscheinen als Baustoffe der Zukunft besser geeignet. Auch bei Dämmstoffen gibt es viel Innovation.
Als Vertreter einer jungen Architekten-Generation wollen Sie flexible Bauten schaffen.
Die Stadt muss Anregungen und Impulse geben, damit man eine gemeinsame Vision entwickelt, wie man als Stadt nachhaltig baut. Wenn Gebäude nicht zu definiert sind und nutzungsoffen bleiben, ist schon viel erreicht.
Leonard Steidle: "Die Paketposthalle könnte ein richtiger Hotspot und Lieblingsort werden"
Sie meinen, dass Büroräume als Wohnungen und Wohnungen als Büro dienen können?
Ja. Im ersten Schritt braucht es ein bisschen mehr Platz. Größere Schächte für die Leitungen, höhere Decken, mehr ähnlich große Räume könnten geplant werden - und die Möglichkeit, Zimmer zusammenzuschalten, indem man Trennwände herausnimmt. Unser Büro versucht diese Flexibilität bei jedem Projekt vorzudenken und zu ermöglichen.
In München gibt es hochhausfeindliche Tendenzen und Hochhaus-Fans. Was sagen Sie zur Debatte um die zwei geplanten 155-Meter-Türme an der Paketposthalle?
Es ist vier Jahre her, dass ich die ersten Pläne gesehen habe. Der erste Entwurf, ohne die Außenaufzüge, hat mir besser gefallen. Es ist ein gutes Konzept, dass überdachter Freiraum in der Halle entsteht, der Konzerte, Sport, Feste und Versammlungen ermöglicht. Das wird man nutzen. Das sind eigentlich Orte, die München braucht. Die Paketposthalle könnte ein richtiger Hotspot und Lieblingsort werden.

Leonard Steidle: "Auch ein 150-Meter-Turm kann sensibel gebaut sein"
Auf der anderen Seite meinen Sie: "Die Halle darf kein Freifahrtschein sein für alles, was daneben passiert."
Ich habe grundsätzlich nichts gegen Hochhäuser. Doch ich mag eine gewisse Staffelung. Allgemein finde ich es gut, wenn Hochhäuser nicht unter sich stehen, sonst verliert der Fußgänger den Maßstab. In Wien und Zürich werden gerade deutlich höhere Hochhäuser gebaut, und es funktioniert. Allerdings viel wichtiger als die Höhe ist für mich die Qualität und eine Ausstrahlung, die die Stadtsilhouette bereichert. Hierfür braucht es eine mutige Stadt und sensible Entwürfe. Auch ein 150-Meter-Turm kann sensibel gebaut sein.
Kann man Hochhäuser inzwischen ökologisch bauen?
Aus dem Studium weiß ich, dass es ab 60 oder 100 Meter Höhe schon energieintensiv wird. Doch das hängt davon ab, was man investieren will. Auch 155 Meter kann man energetisch effizient bauen. Der Turm könnte sogar als Solarkraftwerk dienen, mit einer Photovoltaikfassade, die Energie gewinnt. In der Siemensstadt in Berlin wird gerade so ein Hochhaus geplant.
Architekt Leonard Steidle: "Das Werk meines Vaters prägt mich"
Anwohner treibt das Thema Verschattung durch Hochhäuser um. Was sagen Sie?
Die Grenzwerte müssen eingehalten werden. Die Fassade benachbarter Gebäude darf nicht mehr als zwei Stunden am Tag verschattet werden, das wird in Verschattungsstudien vorher nachgewiesen. Für die Nachbarn von Hochhäusern am Boden würde es sonst kritisch werden. Viele Bauprojekte und jedes Hochhausprojekt hat damit zu tun. Generell gilt, je schlanker der Turm, desto kürzer die Verschattung.
Ihr Vater Otto Steidle hat ein Hochhaus auf der Theresienhöhe gebaut.
Das ist ein Türmchen von 50 Metern. Damals ging es schon richtig heiß her. Wenn man es jetzt sieht, hätte es ein paar Meter mehr vertragen können: Es hätte gewonnen an Proportion und Ausstrahlung. Vielleicht auch als Orientierungspunkt.
Reagiert man in München auf Ihren Namen?
Es ist neu für mich, auf meinen Vater angesprochen zu werden. Ich hatte ein gutes Verhältnis zu ihm und mag es. Mit seiner Begeisterung für Architektur bin ich aufgewachsen. Das Werk meines Vaters prägt mich. Ich arbeite damit. Sehr gerne mache ich Führungen durch das Haus Genter Straße 13, es ist ein Denkmal aus den 70er Jahren.
Welche Spur würden Sie gerne in der Münchner Stadtentwicklung hinterlassen?
Lebendige Nachbarschaften, in denen sich alle Bewohner wirklich wohlfühlen. Ich möchte dazu beitragen, dass verantwortungsvoll mit Ressourcen umgegangen wird. Und: Lebendige Orte sind für mich dynamische Orte, die sich ändern können über die Zeit- und aus denen heraus die Zukunft mitgestaltet wird.
Wo fühlen Sie sich eigentlich am wohlsten?
Dort, wo richtig viel Leben passiert und wo man sich treiben lassen kann im Stadtleben: im Bahnhofsquartier, im Glockenbachviertel oder im Werksviertel. Vielleicht weil ich auf dem Land aufgewachsen bin, suche ich auch sehr die Natur.
Was sagen Sie, liebe Leserinnen und Leser? Wie könnte man in München spannendere Architektur ermöglichen? Schreiben Sie uns! Entweder per E-Mail an leserforum@az-muenchen.de oder in die Kommentare unter diesen Artikel.