Interview

"Anwalt der Alten" Claus Fussek: "Alle halten den Mund"

Seit 40 Jahren kämpft Claus Fussek für die Alten und Kranken in Pflegeheimen sowie deren Angehörige. Nun geht der Sozialpädagoge mit 69 in Rente - und mit Pflegekräften hart ins Gericht. Ein Abschiedsgespräch.
von  Nina Job
Claus Fussek in seinem Büro der Vereinigung Integrationsförderung in der Klenzestraße.
Claus Fussek in seinem Büro der Vereinigung Integrationsförderung in der Klenzestraße. © Nina Job

München - Es hat sich nicht viel geändert. Seit 1. Februar ist Claus Fussek offiziell im Ruhestand. Aber er sitzt schon wieder vor seinen Akten und Papierbergen. Morgen will er wiederkommen. Und nächste Woche auch.

Das Büro in der Vereinigung Integrationsförderung in der Klenzestraße schaut aus wie immer. Am PC kleben die Fotos seiner verstorbenen Eltern. An den Wänden hängen Zeitungsartikel. Und in den Regalen stehen all die Ordner, übervoll mit Schicksalen und Fotos, die das ganze Elend dokumentieren: Alte, hilflose Menschen, die in ihren Exkrementen liegen, abgemagert bis auf die Knochen, die offene Wunden haben vom Dauerliegen, deren Körper ausgezehrt sind, weil sie zu wenig zu Trinken bekommen.

Münchner Claus Fussek: Seit 40 Jahren unermüdlicher "Anwalt der Alten"

400 Ordner voller Bittbriefe, Verzweiflung und Missstände in deutschen Pflegeheimen. Fotos dokumentieren Tausende erschütternde Schicksale. Hätte Claus Fussek zu seinem Abschied eine Pressekonferenz gehalten, er hätte sie "Analyse des Scheiterns" betitelt, sagt er beim AZ-Besuch.

Was kommt nach, wenn der unermüdliche "Anwalt der Alten" abtritt? Ein Nachfolger ist nicht in Sicht. Einfach aufhören kann Claus Fussek nicht. Dafür gehen ihm all die Schicksale der Menschen, die bei ihm Hilfe suchten, viel zu nahe. Während des Gesprächs mit der AZ schießen ihm immer wieder Tränen in die Augen.

Claus Fussek: Der Kampf für ein Altern in Würde

AZ: Herr Fussek, bei Ihnen klingelt ständig das Telefon. Hören Sie wirklich auf?
CLAUS FUSSEK: Klar bin ich noch erreichbar. Ich habe meiner Frau versprochen, die Ordner nicht alle mit nach Hause zu nehmen. Aber irgendwie werde ich schon weitermachen.

Was hat sich in den 40 Jahren, in denen Sie Missstände aufgedeckt haben, geändert?
Nehmen Sie mein AZ-Interview von 2002 - es hat sich nichts geändert! Wir beklagen seit Jahren die Arbeitsbedingungen, aber die Pflege in Deutschland bekommt ständig Bestnoten. Wenn man so will, liegen unsere Alten seit 30 Jahren zertifiziert in ihrer Scheiße.

An seinem letzten Arbeitstag schaut die frühere Sozialministerin Christa Stewens (CSU) bei Claus Fussek im Büro vorbei, um persönlich Auf Wiedersehen zu sagen. Sie war regelmäßig bei Fusseks Pflegestammtischen. 2008 hat sie ihm das Bundesverdienstkreuz überreicht.
An seinem letzten Arbeitstag schaut die frühere Sozialministerin Christa Stewens (CSU) bei Claus Fussek im Büro vorbei, um persönlich Auf Wiedersehen zu sagen. Sie war regelmäßig bei Fusseks Pflegestammtischen. 2008 hat sie ihm das Bundesverdienstkreuz überreicht. © Sigi Müller

Kein Erkenntnisgewinn?
Nullkommanull. Es ist alles gesagt. Es wird kein Buch mehr geben von mir. Aber ich sage natürlich auch, dass es vorbildliche Pflege gibt. Wir müssen es schaffen, unseren Alten ein würdevolles, schmerzfreies Ableben zu garantieren. Denn was wir jetzt machen, beschützt sie nicht. Wir quälen sie. Wir sind an einem Punkt angekommen, wo wir nur noch leisten, dass ein Mensch satt, sauber und trocken ist.

Fussek: Forderung nach Umdenken in Pflegeheimen 

Dank Ihres Engagements gab es Pflegestammtische und unangemeldete Kontrollen in Pflegeheimen. Aber Skandalheime gibt es auch immer noch - wie ist das möglich?
In jeder Talkshow sitzt eine Pflegekraft, die das System kritisiert. Aber keine Pflegekraft stellt infrage, wo sie arbeitet. Warum machen die das mit? Wir loben die Pflegekräfte über den grünen Klee, wir loben sie tot. Wofür?

Was werfen Sie ihnen vor?
Etwa die Hälfte arbeitet bei riesigen, renditeorientierten Seniorenheimbetreibern. Wo waren denn die ganzen Mitarbeiter in den Skandalheimen? Alle haben den Mund gehalten. Die Verantwortlichen haben weggeschaut. Wir brauchen einen Perspektivwechsel und einen Aufstand der anständigen Pflegekräfte. Es kann niemand sagen, er hätte nichts gewusst! Für Tiere gibt es ein Tierschutzgesetz, sie müssen artgerecht gehalten werden. Aldi und Lidl sind weiter mit ihren Versprechungen zur Tierhaltung als die Pflege.

Skandalheime aufdecken und mehr Organisation

Hätten Pflegekräfte die Macht, das System zu ändern?
Hätte die Mehrheit eine Haltung und würde sagen, wir können das nicht mit unserem Gewissen vereinbaren und kündigen, wären solche Skandal-Unternehmen schnell pleite. Ich kann das Gejammer nicht mehr hören. Das ist feige und zynisch. Kein Arzt und keine Pflegekraft wird gezwungen, in so einem Unternehmen zu arbeiten. Die Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren, ist absurd. Pflegekräfte werden überall gesucht.

Was fordern Sie noch?
Dokumentiert endlich ehrlich! Warum werden Leistungen abgerechnet, die gar nicht erbracht werden - sei es aus Zeit- oder anderen Gründen? Organisiert euch! Nicht mal zehn Prozent in den Pflegeberufen sind organisiert. Es gibt keine Pflegekammer. Eigentlich müssten Pflegeheime Schutzräume sein - wo die Alten auch vor den Erben geschützt werden. Wir haben eine Hierarchie des Mitgefühls. Und die Alten stehen an letzter Stelle. Wer keinen Angehörigen hat, der sich kümmert, hat in unserem Pflegesystem Pech gehabt.

Fehlende Empathie bei Pflegekräften

Dass sich Pflegekräfte zu wenig untereinander organisieren - liegt das vielleicht auch daran, dass so viele aus aller Welt nach Deutschland geholt werden - die dann auch in ihren Heimatländern fehlen?
Man kann sich schon wundern, dass Sie in einem Heim Pflegekräfte antreffen, die kaum Deutsch sprechen. Da fragt man sich, wie die einen Abschluss bekommen haben. Ganz generell müssen wir bei der Auswahl des Personals kompromissloser werden. In Pflegeheimen arbeiten auch Menschen, die wegen fehlender Empathie in einem Tierheim keine Anstellung bekommen hätten.

Harte Worte. Sie mussten sich aus der Pflege allerdings auch Einiges an Kritik anhören.
Ja, mir wurde vorgeworfen, dass ich selbst nicht aus der Pflege komme und dass ich zu pauschal wäre. Natürlich weiß ich, dass es vorbildliche Pflege gibt. Aber ich habe mich immer verstanden als der Anwalt der Alten, Kranken, Sterbenden und deren Angehörigen. Ich sehe mich auch nicht als Vertreter der Erben. Wenn Sie zum Beispiel an das Skandalheim in Schliersee denken: Da wurden Alte entsorgt. Das muss man einfach so deutlich sagen.

Alte Menschen eine Last für Angehörige und Politik 

Heißt das, Sie machen auch die Angehörigen verantwortlich, wenn ein alter Mensch in so einem schlimmen Heim landet?
Im Alter werden häufig alte Rechnungen beglichen. Ich merke leider bei vielen Beratungen, wie viele Familienmitglieder miteinander im Krieg sind. Seien wir ehrlich, vor Corona haben auch nur zehn Prozent der Heimbewohner Besuch bekommen.

Wenn man einen Pflegeplatz sucht, hat man ja nicht immer unbedingt die Wahl. Viele können sich ein besseres Heim doch gar nicht leisten.
Immer geht es darum, wer das bezahlt. Wir bezahlen es! Wir alle. Wir brauchen endlich eine ehrliche ethische Diskussion außerhalb der Politik. Wenn jemand einen Heimplatz nicht bezahlen kann, dann zahlen sowieso wir. Der Staat sind wir!

Bezahlung der Pflegekräfte: Politik ist machtlos

Verdienen Pflegekräfte immer noch zu wenig?
Das ist inzwischen eigentlich kein Thema mehr. Es gab auch nie jemanden, der dagegen gewesen wäre, dass Pflegekräfte besser verdienen. Es war immer so, dass die Politik in die Verantwortung genommen worden ist. Aber die Bezahlung ist Aufgabe der Tarifparteien. Dafür, dass Pflegekräfte nicht in der Gewerkschaft sind, kann die Politik nichts.

Haben Sie resigniert?
Sagen wir mal so: Ganz aufgegeben habe ich noch nicht. Sogar die katholische Kirche scheint ja nun so weit zu sein, dass sie die Perspektive der Opfer einnimmt. Missbrauch wird als Straftat bezeichnet. In der Pflege dagegen werden Misshandlungen oder Körperverletzungen immer noch relativierend als "Pflegemangel" bezeichnet.

Fussek: Pflegeheime sind weitgehend rechtsfreie Räume 

Gibt es ein Schicksal, das Ihnen besonders nahe gegangen ist?
Da gibt es viele. Ein Schlüsselerlebnis war für mich der Besuch bei einem 94-Jährigen, der das KZ überlebt hatte. In seinem Zimmer in einem Münchner Pflegeheim stank es unglaublich. Das Essenstablett war auf der Toilette abgestellt. Man hatte ihm fünf Wochen die Zähne nicht rausgenommen. Er sagte zu mir: "Ich dachte, ich hätte das Schlimmste in meinem Leben hinter mir".

Erschütternd.
Pflegeheime sind weitgehend rechtsfreie Räume. Wären Dinge, die in Pflegeheimen geschehen sind, im Knast passiert, wäre ermittelt worden und der Justizminister wäre zurückgetreten. Was passiert, nachdem Skandale wie in Schliersee oder Celle publik wurden? Nicht mal eine Mahnwache gab es.

Gutes Heim an Kleinigkeiten  und langen Wartelisten erkennbar

Was funktioniert in vorbildlichen Heimen anders als in den schlechten?
Ich mag den Satz nicht, aber er stimmt schon: Der Fisch stinkt vom Kopf. Mehr Geld oder Personal haben die auch nicht. In diesen Einrichtungen herrscht eine andere Haltung, ein angstfreies Arbeitsklima, die Mitarbeiter werden gepflegt, sie sind das Kapital. Und es gibt Frühwarnsysteme.

Woran erkennt man ein gutes Heim?
An langen Wartelisten. Und oft sind es Kleinigkeiten. Schauen Sie, wenn Sie sich das Heim anschauen, wie die Bewohner frisiert sind, ob das Getränk in Reichweite steht - sowas. Der Leiter eines vorbildlichen Heimes sagte zu mir: Wir versprechen keine Leistungen, die wir nicht erbringen können. Und: Ein Heim ohne Mängel kann es nicht geben. Ein gutes Heim hat palliative Pflege, in der die Bewohner bis zum Tod begleitet werden und nicht am Ende ins Krankenhaus kommen.

Fussek: Pflegeheime die Endstationen langer Leben 

Ist palliative Pflege in Heimen noch die Ausnahme?
Leider ja. Es wäre auch während Corona besser gewesen, man hätte die Patienten würdevoll bis zum Tod im Heim begleitet, als sie noch in die Kliniken zu transportieren. Jedes Pflegeheim ist Endstation. Niemand möchte allein an Schläuchen im Doppelzimmer einer Klinik sterben. Eine Pflegerin hat mir berichtet, wie sehr es sie quält, dass sie es nicht geschafft hat, einer Sterbenden die Hand zu halten, obwohl sie es ihr versprochen hatte.

Weil sie keine Zeit hatte?
Ja, sie konnte nicht mal ein Gebet sprechen, weil sie im Nachtdienst 50 Bewohner zu betreuen hatte.

Fussek: "Ich will mir kein Doppelzimmer mit einem Bayern-Fan teilen"

Sie sind diese Woche 69 Jahre alt geworden. Haben Sie sich schon ein Heim ausgesucht für später?
Nein, noch ist es ja nicht so weit. Außerdem weiß ich ja heute nicht, wie ein Heim in ein paar Jahren ist. Selbst von Station zu Station kann Pflege sehr unterschiedlich sein.

Haben Sie schon mit Ihren Kindern über Ihre Pflege gesprochen?
Also meine Söhne haben mir versprochen, dass ich in kein Doppelzimmer mit einem Bayern-München-Fan komme.

Und im Ernst?
Früher fand ich den Satz "Ich möchte euch nicht zur Last fallen" immer grauenhaft. Heute empfinde ich es genauso. Natürlich wünsche ich mir, im Kreise meiner Familie bleiben zu können. Aber ich habe selbst erlebt, wie man auch in einer intakten Familie an seine Grenzen kommen kann. Meine Frau und ich haben über Jahre meine Schwiegereltern und meine Eltern, die palliativ zu Hause gepflegt wurden, begleitet. Meine Mutter hat nachts immer wieder stundenlang gerufen.

Fussek: Meine Aktenordner werde ich nicht schreddern

Ihre Kinder haben wahrscheinlich auch viel von Ihrer Arbeit mitbekommen, oder?
Meine Söhne sind pflegegeschädigt. Ich war oft nicht zu Hause. Es waren die härtesten 40 Jahre meines Lebens. Einmal im Urlaub auf Teneriffa sagte einer meiner Söhne: "Papa, lass uns schneller gehen. Du bist erkannt worden." Also: Sollte es im Kreise meiner Familie nicht gehen, hoffe ich, dass wir ein Haus finden, das palliativ ausgerichtet ist.

Herr Fussek, und was wird nun aus all den Aktenordnern in Ihrem Büro?
Ich weiß es noch nicht. Aber sie schreddern? Das packe ich nicht! Da stecken über 50.000 Schicksale drin.

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