Andreas Peichl über Corona-Folgen: "Indikatoren zeigen nach oben"

München - Wirtschaftswissenschaftler Andreas Peichl (41) ist Leiter des Ifo-Zentrums für Makroökonomik und Befragungen sowie Professor für Volkswirtschaftslehre an der LMU München.
AZ: Herr Professor Peichl, Sie haben kürzlich festgestellt, dass es noch nie so einfach gewesen sei, in München eine Wohnung zu bekommen wie jetzt. Ihr Ernst?
ANDREAS PEICHL: Für ein bestimmtes, günstiges Segment gilt das, ja. Meine wissenschaftlichen Mitarbeiter und Doktoranden suchen typischerweise Zweizimmerwohnungen. Da war der Markt schon sehr eng, weil viele junge Leute darauf schauen. In diesem Jahr findet der Betrieb an den Unis - die LMU hat 40 000 Studenten, die TU ähnlich viele, dazu die anderen Fachhochschulen - größtenteils virtuell statt. Das heißt, dass bis zu 100.000 Menschen eventuell gar nicht nach München kommen. Es gibt auch keine Studentenpartys. Da kann man, um Kosten zu sparen, auch bei den Eltern wohnen.
Gibt es in München auch Arbeitnehmer, die sagen: Okay, wenn ich schon im Homeoffice bin, dann kann ich statt einer Wohnung in der Stadt auch eine Villa in der Oberpfalz mieten - überspitzt gesagt?
Oberpfalz vielleicht nicht direkt, aber eine Tendenz in Richtung hin zum Ländlichen lässt sich schon feststellen. Ich glaube, das wird etwas Dauerhaftes und das ist vielleicht gar nicht so schlecht für den Großraum München und seinen überhitzten Immobilienmarkt. Wir befragen beim Ifo-Institut monatlich etwa 10.000 Unternehmen in Deutschland, davon 1500 in Bayern, zu Trends. Fast jede Firma geht davon aus, dass es auch in Zukunft, wenn die Krise einmal vorbei ist, mehr Homeoffice, mehr virtuelle Meetings, weniger Dienstreisen geben wird. Ob die Menschen dann in den Speckgürtel der Städte ziehen werden oder wirklich in die Oberpfalz, das wird spannend sein zu beobachten.
Andreas Peichl: "Wir brauchen weniger Büros und Ladenflächen"

Was passiert mit den ganzen Gewerbeimmobilien, wenn die Leute die Stadtflucht antreten? Werden sie in Wohnraum umgewandelt?
Es kommt ein bisschen auf das Juristische an, die Raumnutzungsordnung. Ist es Gewerbegebiet, Wohngebiet oder Mischgebiet? Da, wo es leicht umzuwandeln ist, wird man es in der Tat sehen. Wir brauchen weniger Büros und Ladenflächen, wegen Homeoffice und wegen des Onlinehandels. Letzterer geht auch zulasten der Innenstädte. Es braucht also gute Konzepte, wie daraus bezahlbarer Wohnraum entstehen kann. Gerade für München ist das eine große Chance.
Wie sieht denn die Zukunft der Innenstädte aus - aus Sicht des Ökonomen?
Das klassische Kaufhaus hat ausgedient in meinen Augen, der Ort, an dem man alles kaufen kann. Der Trend geht klar zu spezialisierten Anbietern und Geschäften. Die ganze Welt wird digitaler, vernetzter, was das Einkaufen auch von den Arbeitszeiten her einfacher macht. Wenn ich mich abends nach 20 Uhr Zuhause hinsetze, um noch mal schnell etwas einzukaufen, ist das kein Problem. Denkt man an die Ladenöffnungszeiten speziell in Bayern, ist das natürlich ein verlockendes Angebot. Für die Händler, selbst die kleinen lokalen, wird es darum gehen, auch online zu verkaufen. Sie profitieren von dem massiven Schub im Bereich der Digitalisierung, nicht nur die großen Portale. Da kann die Krise durchaus auch etwas Gutes bewirken. Wir werden jedenfalls sehr gut aufpassen müssen, damit unsere Innenstädte nicht aussterben.
Das denkt Andreas Peichl über die Corona-Warn-App
Bayern, das viel besungene Land von Laptop und Lederhose, hinkt bei der Digitalisierung bedenklich hinterher. Wie schädlich ist das mit Blick auf die Zukunft?
Wir haben die digitale Entwicklung in so vielen Bereichen verschlafen - nicht nur in Bayern, sondern in Deutschland insgesamt. Schon der Handyempfang ist eine Katastrophe, egal, ob man sich an einem bayerischen Bergsee befindet oder im Zug auf der Strecke von München nach Stuttgart. In dem Bereich muss sich etwas tun. Das ist, glaube ich, auch allen bekannt. Bayern hat im letzten Jahr mit der Hightech-Agenda zwar schon reagiert, aber das wird sicher nicht ausreichen. Da muss mehr Geld fließen, besonders in die Infrastruktur. Gerade für die Entwicklung des ländlichen Raumes ist das zwingend notwendig.
Auch beim Thema Software ist Deutschland in vielen Bereichen Entwicklungsland.
Ja, das zeigen unter anderem gerade die Probleme der Corona-Warn-App. Wir haben die Entwicklung verschlafen, und man kann nur hoffen, dass die Krise ein Schuss vor den Bug ist, der die Politik entsprechend wachrüttelt.
Andreas Peichl: "Alle Stimmungsindikatoren zeigen deutlich nach oben"
Zu einem erfreulicheren Thema: Ihr Institut hat gerade, den Befürchtungen vieler zum Trotz, festgestellt, dass sich Deutschland wieder in einer Phase des Aufschwungs befindet. Erklären Sie das, bitte.
Wenn man die Zahlen, was die Konjunkturmessung betrifft, ansieht, muss man feststellen, dass sie überraschend gut sind. Im Februar habe ich gedacht, es wird ein gutes Jahr. Im März kam Corona und ich habe gedacht, es wird ein schlechtes Jahr. Im April habe ich gedacht, es wird das schlechteste Jahr in der Geschichte der Bundesrepublik. Und jetzt? Gerade kamen gute Zahlen vom Arbeitsmarkt. Davor die Einzelhandelsumsätze, die annähernd wieder das Niveau vom Februar erreicht hatten. Natürlich waren es nicht die gleichen Händler. Manchen wurde die Bude eingerannt, andere hatten große Probleme. Aber generell geben wir wieder viel Geld aus. Alle Stimmungsindikatoren zeigen deutlich nach oben.
Das klingt, als müssten wir wunschlos glücklich sein. Zumindest was die Wirtschaft betrifft, oder?
Es gibt eine Reihe von unkalkulierbaren Risiken. Neben der Möglichkeit einer zweiten Corona-Welle sind das der Brexit, Trumps Vereinigte Staaten, wo bis hin zu Bürgerkrieg alles Mögliche denkbar ist, der Handelskonflikt USA-China, die Situation mit Russland, Türkei, Griechenland, Naher Osten. Aber wenn man rein Deutschland betrachtet, dann stehen wir deutlich besser da, als man noch vor einigen Wochen hätte erwarten können.
Andreas Peichl: "Deutschland stand finanziell so gut da, dass..."
Die Scholzsche "Bazooka" hat viele Corona-Folgen abgemildert. Kommt Ende September nicht vielleicht doch das böse Erwachen, wenn viele Maßnahmen auslaufen?
Deutschland stand finanziell so gut da, dass man es sich leisten konnte, schnell und massiv Geld in die Wirtschaft und an die Bevölkerung zu geben. Die Konjunkturprogramme haben den Menschen Zuversicht gegeben. Das war gut und richtig und hat den Konsum beflügelt. Nachdem anfangs sehr breit nach dem Gießkannenprinzip verteilt wurde, muss man nun aber langsam schauen, wem weiterhin geholfen werden soll. Da wäre der ganze Bereich sozialer Konsum. Will man zum Beispiel alle gastronomischen Betriebe, die unverschuldet in finanzielle Probleme geraten sind, dauerhaft unterstützen? Oder nur die, die sich in der Krise besonders angestrengt haben?
Wer will das entscheiden?
Ja, das sind die Fragen jetzt. Aber jede Krise lässt eben die Schwachstellen eines Systems zutage treten. Der Automobilindustrie geht es nicht wegen Corona schlecht, die war letztes Jahr schon in der Rezession. Da wurden einfach Trends verschlafen. Vielleicht muss man hier und da in den sauren Apfel beißen. Gesundschrumpfen nennt man das oder kreative Zerstörung, weil dann auch immer neue Dinge entstehen.
Der Staat wird einen Autohersteller mit Zehntausenden von Jobs, die an ihm hängen, sicher eher retten als irgendwelche Clubs und Bars, die völlig unverschuldet am Rande des Ruins stehen. Ist das gerecht?
Das ist am Ende eine Kosten-Nutzen-Abwägung. Wie systemrelevant ist ein Unternehmen? Welchen Teil zur Wirtschaftsleistung steuert es bei? Wie viele Arbeitsplätze hängen daran? Ein hoch spezialisiertes Industrieunternehmen mit dem ganzen Wissen, das seine Mitarbeiter besitzen, wird sicher eher erhalten als ein Club, eine Bar oder ein Restaurant. Wenn man aber an die Biergärten in München oder die Clubszene in Berlin denkt, könnte es natürlich auch kulturelle, nicht-ökonomische Gründe für einen Erhalt geben.
"Es werden Jobs am Leben erhalten, die keine Zukunft haben"
Millionen von Menschen beziehen gerade Kurzarbeitergeld. Die Bundesregierung hat angekündigt, es auf zwei Jahre verlängern zu wollen. Ist es das deutsche Allheilmittel in der Krise?
Es ist in der Tat ein sehr wichtiges Instrument. So lässt sich ein temporärer Produktionsumsatzrückgang teilweise abfedern. Das Kurzarbeitergeld war schon in der letzten Krise 2008/2009 erfolgreich. Viele Länder beneiden uns darum und einige haben es kopiert. Zuletzt zum Beispiel Großbritannien. Aber das Kurzarbeitergeld ließe sich noch verbessern, indem Arbeitnehmer, die freigestellt sind, Weiterbildungsmaßnahmen in Anspruch nehmen. Vielleicht sogar nehmen müssen, also verpflichtend. Das ist aber aufgrund der momentanen Gesetzeslage nicht möglich.
Hat das Kurzarbeitergeld noch andere Nachteile?
Ja, es hilft natürlich auch Firmen, die bereits vorher in der Krise steckten. So werden künstlich Jobs am Leben erhalten, die keine Zukunft mehr haben. Für diese Beschäftigten wäre eine Weiterbildung oder eine Umschulung umso wichtiger. Ich sehe die Verlängerung des Kurzarbeitergeldes aber auch aus einem anderen Grund kritisch. Die Datenlage ist noch nicht sehr gut. Man hätte bequem bis Ende des Jahres warten können, um sich ein genaueres Bild zu machen. Vielleicht hätte man im Dezember oder im Januar gesagt: Nein, wir wollen lieber etwas anderes, etwas Zielgerichteteres. Aber die Entscheidung ist gefallen, vielleicht aus deshalb, weil man es 2008/2009 auch schon so gemacht hat.
Andreas Peichl: So verändert Corona unser Leben
Werfen Sie bitte einmal einen Blick in die Zukunft: Wie wird Corona unser Leben, unsere Arbeitswelt, unser Konsumverhalten auf lange Sicht verändern?
Ich gebe ein Beispiel: Unsere dreijährige Tochter geht jetzt wieder in die Kita. Seitdem sie das tut, hat sie keine laufende Nase mehr gehabt. Ungewöhnlich. Händewaschen, gewisse Abstands- und Hygieneregeln, die helfen uns vielleicht in der Zukunft. Vielleicht kommen wir auch dahin, dass ein Mensch, wenn er Schnupfen hat und in der Öffentlichkeit eine Maske trägt, nicht komisch angeschaut wird. So wie das in Asien heute schon ist. Was das Arbeitsleben betrifft, da haben wir gelernt, dass man für ein Meeting von einer Stunde in Berlin oder Hamburg nicht mehr in den Flieger steigen muss. Ich habe das allein im letzten Jahr achtmal gemacht. Dieses Jahr rede ich selbst mit einem Staatssekretär oder einem Minister per Videokonferenz. Das ging letztes Jahr nicht, unter anderem deshalb, weil das Finanzministerium die technischen Mittel gar nicht hatte.
Letzte Frage: Auf einer Skala von eins bis zehn - wie schlimm ist Corona aus wirtschaftlicher Sicht, verglichen mit anderen Krisen?
Gute Frage. Ich würde sagen: acht.
Die Finanzkrise?
Sieben. Zehn wäre vielleicht alles, was so in Richtung Krieg geht.