Amtsrichter im Corona-Alltag: "Das Virus bringt Neues zum Blühen"

Klaus-Peter Jüngst, Richter und Sprecher am Münchner Amtsgericht, über Bussis bei Hausbesuchen, Anhörungen vorm Café und Verhandlungen über sein Dienst-Tablet.
von  Klaus-Peter Jüngst
Amtsrichter Klaus-Peter Jüngst in seinem "Corona-Verhandlungszimmer" in der Pacellistraße - beim Gerichtstermin online.
Amtsrichter Klaus-Peter Jüngst in seinem "Corona-Verhandlungszimmer" in der Pacellistraße - beim Gerichtstermin online. © Bernd Wackerbauer

München - Corona hatte mich kalt erwischt. Im nahen Nordtirol gewesen, das direkt danach Risikogebiet wurde, zeigten einige in meiner Familie Corona-typische Symptome, was uns noch vor dem allgemeinen Lockdown in selbstgewählte Quarantäne führte.

Intensiv wahrgenommener, aber mitunter auch einsamer Frühling

Das Teststäbchen, nein gefühlt der Teststab, brachte ein negatives, also für uns positives Ergebnis. Mit unserer wieder gewonnenen Freiheit landeten wir aber nun mitten im allgemeinen Lockdown.

Im rollierenden System mal im Homeoffice, mal im Amtsgericht in der Pacellistraße, erinnere ich mich an die surrealen Radfahrten durch die menschenleere Innenstadt zu und von der Arbeit. Es gab aber auch ausgedehnte Spaziergänge und Radtouren durch einen schon lange nicht mehr so intensiv wahrgenommenen, aber mitunter auch einsamen Frühling.

Eigentlich war ich immer erstaunt, wie nahe mich mein Richterberuf zu den Menschen bringt - und genieße es meist sehr. Als Betreuungsrichter etwa stand ich in Wohnungen Hilfsbedürftiger, die seit Ewigkeiten von keinem Fremden mehr betreten worden waren, bekam von verwirrten, aber reizenden alten Damen mal ein Küsschen auf die Backe, die mich unbeirrbar für ihren Enkel hielten.

"Wir sollten im ersten Lockdown nur die wirklich eiligen Sachen verhandeln"

Nach vielen anderen Stationen Familienrichter geworden, geriet ich tief in die Abgründe nachehelicher Schlachten, bei denen die Kinder als schwerstes Geschütz gegen den oder die nun zum Monster gewordene Ex missbraucht wurden. Und das nicht vom hohen Richtertisch aus - in München verhandelten wir bisher Familiensachen auf Augenhöhe am runden Tisch.

Und nun Corona. Alles auf Abstand. Jede Begegnung wird zur Gefahr. Derzeit bin ich wieder Zivilrichter, der unter anderem für zu hohe Thujenhecken und gescheitertes Ferienglück genauso wie für verpfuschte kleine Schönheitsoperationen zuständig ist. Wir sollten im ersten Lockdown nur die wirklich eiligen Sachen verhandeln, um niemanden unnötig zu gefährden. Und in Zivilsachen geht es - vordergründig - meist nur ums Geld. Was ist da schon unaufschiebbar?

Bequem und umweltfreundlich: Online-Verhandlungen

Die zündende Idee: Wie wäre es, online zu verhandeln? Eine eigene Videokonferenzanlage gibt es für Zivilrichter am Amtsgericht zwar nicht und Privatgeräte gehen aus Datenschutzgründen gar nicht, aber mit einem mir als Pressesprecher zur Verfügung gestellten Dienst-Tablet wagte ich es - und gewann!

Wie dankbar war der Kieferorthopäde, der seine Praxis nicht einen halben Tag für einen nur kurzen Gerichtstermin zumachen musste, der Anwalt aus Norddeutschland oder der Handwerker aus Niederbayern. Sie alle konnten bequem und umweltfreundlich vom heimischen Büro aus teilnehmen und waren in aufgeräumter Stimmung.

Scheidungsanhörung vor dem Café

Klar, Videoverhandlungen könnten in hochemotionalen Streitigkeiten trotz Verbots aufgezeichnet werden und zur späteren Beschämung des Gegners dienen. Und eine Zeugenvernehmung, bei der es auf Details ankommt, geht auch nur in Präsenzterminen. Aber seit letzter Woche können 25 hochmotivierte weitere Richter quer durch alle Zivilabteilungen unseres Gerichts diese Technik im Pilotprojekt testen.

Auch andere Kollegen waren kreativ. Eine Familienrichterin hielt die Scheidungsanhörungen vor einem Café, ein Familienrichter verhandelte über eine Telefonkonferenz, ein Güterichter in Mietsachen setzte sich mit seinen auch Hochrisikoparteien in eine Grünanlage. Deren Anwälte hatten für Klappstühle gesorgt. Nur der sie umrundende städtische Rasenmäher störte kurz.

Corona ist für viel zu viele zu viel - und Vieles existenzbedrohend, ja sogar tödlich. Aber das Virus bringt hin und wieder - auch am Amtsgericht - Neues zum Blühen. (aufgezeichnet von Ralph Hub)

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