Am Anfang war das Bier
MÜNCHEN - Professor Josef Reichholf, Evolutionsbiologe und Leiter der Wirbeltierabteilung der Zoologischen Staatssammlung in München, glaubt, dass unsere Vorfahren nicht aus Hunger von der Jagd auf den Ackerbau umstiegen – sondern um immer größere Feste zu feiern
AZ: Herr Professor Reichholf, bislang ging man davon aus, dass die Menschheit sesshaft wurde, weil der Mangel an jagdbarem Wild sie zum Ackerbau zwang. In Ihrem neuen Buch behaupten Sie: Am Anfang standen Überfluss – und Rausch.
PROFESSOR JOSEF H. REICHHOLF: Wenn man Hunger hat und sich von Gräsersamen ernähren soll, die ja noch kein Getreide im heutigen Sinne waren, ist das so eine Sache: Die Körner sind hart und, weil sie so klein sind, nicht leicht zu sammeln. Sie lassen sich außerdem schwer aus den Spelzen lösen. Dass sie quasi von selbst herausfallen, ist das Ergebnis von Jahrtausenden der Züchtung. Das bisschen Getreide, das man per Hand gewinnt, hilft allenfalls einige Tage, maximal ein paar Wochen. Aber dann beginnt der Winter – und man muss trotzdem von irgendetwas leben, bis es im nächsten Spätsommer wieder reife Körner gibt.
Wozu wurde das Getreide dann genutzt?
Wenn man die Körner zerreibt und Wasser dazu gibt, vergärt dieser Brei zu Bier. Das schmeckt süßlich – und es macht Spaß, es zu trinken. Man kann diese Flüssigkeit schlürfen oder mit Rohrholmen trinken. Sumerer vor einem großen Topf, die mit Rohrholmen Bier schlürfen - das ist die älteste Darstellung, die wir überhaupt von der Nutzung von Getreide haben. Während die Herstellung von Brot aus Körnern erst viel später dokumentiert ist. Hinzu kommt: Das indogermanische Wort „brauda“ ist die Wurzel von „Brot“ und „brauen“ – aber „brauen“ ist älter.
Wo ging’s los?
Im Vorderen Orient - und der wird, völlig zu Recht, von Vorgeschichtsforschern und Archäologen „Fruchtbarer Halbmond“ genannt. Aber wo das Gelände fruchtbar ist, da wächst Gras bestens und da gibt es Wild. So dass auch von dieser Seite her die Vorstellung, dass die Menschen im Vorderen Orient aus Hunger angefangen hätten, sprichwörtlich ins Gras zu beißen, absurd ist.
Wie war es dann?
Man kann es andersrum betrachten: Die Menschen wussten, dass man alles, was süß ist – und die milchreifen Grassamen schmecken süß – vergären kann zu Wein, zu Most oder zu Bier. Damit begannen sie, Feste zu feiern. Vor allem im Herbst, in der Brunftzeit, konnte man leichter Beute machen als im Sommer, weil die Hirsche nicht mehr so vorsichtig sind. Das zu feiern, sich mit Stammesgenossen, die vorher monatelang verstreut im Gelände herumgezogen waren, an einem Ort zu sammeln – das ist mit Bier wunderbar möglich.
Welche Hinweise auf diese Theorie gibt es?
Die ersten festen Stätten, an denen sich Menschen niedergelassen haben, waren Kultstätten. Der älteste Nachweis überhaupt und ganz phantastisch ist Göbekli Tepe in der Südost-Türkei mit einem Alter von 10000 bis 12000 Jahren.
Wie ging es weiter von der Kultstätte zur Siedlung?
Ich denke, dass die Feste Selbstläufer wurden – siehe Oktoberfest, das stetig im Wachsen begriffen ist. Das heißt: Wenn es den Menschen Spaß macht, sich an einem bestimmten Ort zu sammeln, steigt auch der Bedarf an Bier. Also werden Spezialisten anfangen, die Körner systematischer zu sammeln. Man wird dafür sorgen, dass auch etwas übrig bleibt für eine gezielte Aussaat im nächsten Jahr, damit man zur rechten Zeit wieder Körner bekommt. Und da Wildgetreide einjährig ist, kann man keine dauerhaften Pflanzungen anlegen, sondern man muss den Boden immer wieder in den Anfangszustand versetzen – und davon ausgehend den Ertrag steigern. Mit der Steigerung der Erträge konnten immer mehr Menschen kommen.
Der Hopfen galt als Medizin und wurde ursprünglich geraucht
Und dann?
Die verschiedenen Gruppen fingen an, aus ihrer Gegend Getreidekörner mitzubringen. Wenn nun Getreidesorten unterschiedlicher Herkunft an einem Ort zusammentreffen, gibt es Hybride und es entstehen ertragreichere Sorten, mit denen man gezielt weiter züchten kann. Das führt dazu, dass die Leute beginnen, sich dort dauerhaft aufzuhalten, um immer mehr zu produzieren und immer größere Feste zu feiern.
Ist das Oktoberfest also eine fröhliche Zeitreise in die Vergangenheit?
Das kann man durchaus so sehen: Beim Oktoberfest geht es, wie bei den meisten größeren, öffentlichen Festen, nicht ums Essen, sondern um den geselligen Biergenuss und das auch noch auf unbequem engstem Raum. Wer dafür aus Neuseeland, Japan oder Nordamerika anreist, hat sicher nicht nur Essen und Trinken im Sinn. Dafür muss es buchstäblich tiefere Gründe geben!
Trotzdem haben nicht die Bayern, sondern offenbar die Ur-Mongolen das Bier erfunden. Wie kommt’s?
Was im Vorderen Orient geschehen ist, war Folge einer Verschiebung oder einer Expansion von Völkern, die ursprünglich zwischen dem Ural und dem Altai in Zentralasien lebten. Diese Ural-Altaier hatten sich in der Späteiszeit in zwei Hauptgruppen aufgeteilt – in einen östlichen Teil, aus dem die Nordchinesen, die Mongolen im engeren Sinne, die Koreaner, die Japaner und alle Indios beider Amerikas hervorgingen. Aus dem westlichen Teil entstanden die Indogermanen. Späteiszeitlich kam es im südwestlichen Bereich zu einer Wanderbewegung dieser ural-altaischen Völker und sie drängten nach Süden. Ich glaube, dass diese Ural-Altaier im Spätsommer und Herbst schon seit langem Beeren gesammelt und diese vergoren haben und dass das Prinzip der alkoholischen Gärung von ihnen mitgebracht wurde. Sie probierten überall, wo sie hinkamen: Gibt es Süßschmeckendes, das man in ähnlicher Weise vergären kann? Diese Kenntnisse wurden Wegbereiter für die Nutzung neuer Pflanzensorten für ähnliche Zwecke und damit auch für die Entdeckung jener kurzlebigen Wildgräser, aus denen unsere drei Hauptgetreidesorten hervorgegangen sind – die Gerste, der Weizen und, später, der Roggen.
Warum gilt Bayern dann als das Heimatland des Bieres?
Ich glaube, das hängt mehr damit zusammen, dass man in historischer Zeit, also vor zweieinhalb- bis zweitausend Jahren zunehmend versuchte, das Bier haltbarer zu machen. Da wurde mit allem möglichen experimentiert, bis man irgendwann darauf kam, dass ein Stoff, der ursprünglich geraucht wurde – Hopfen, der sehr eng mit dem Hanf verwandt ist –, das Bier haltbarer und gleichzeitig beruhigender macht.
Auch tote Ratten und Mäuse kamen in den Gerstensaft
Wie kam man darauf?
Die medizinische Wirkung des Hopfen-Öls war schon im Altertum bekannt. Man hatte die Vorstellung, dass Hauterkrankungen von Hopfen geheilt werden konnten. Wahrscheinlich war das nichts anderes als die beruhigende Wirkung des Hopfens, mit der die Selbstheilungskräfte des Körpers gestärkt wurden. Aber man hat auch mit anderem herumprobiert. In der Umgebung von Pilsen etwa fand man in besonderer Häufigkeit ein Kraut, das sehr giftig ist, nämlich das Bilsen-Kraut. Das hatte man jahrhundertelang dem Bier zugesetzt, dass seine berauschende Wirkung noch stärker wurde. Dünnbier mit Bilsen-Kraut versehen, führt zu hochfliegenden Träumen, ähnlich wie das mit Haschisch der Fall ist. Das war natürlich hochgradig gefährlich. Und weil alles mögliche, sogar tote Ratten und Mäusen, dem Bier zugesetzt worden war, wurde das Bayerische Reinheitsgebot erlassen, das nur noch Hopfen, Malz und Wasser erlaubt.
Das war also die ganze Leistung der Bayern?
Nein. Dann kamen die Jahrhunderte der Kleinen Eiszeit – 1500 bis 1800 – mit sehr kalten Wintern, die erlaubten, dass man in Eiskellern das Bier bis ins Frühjahr hinein haltbar machen konnte. Und als es dann aus war mit dem gelagerten Bier, machte man im Frühjahr mit dem gespeicherten Getreide, das man nun keimen ließ, das Starkbier. Das ist wirklich eine bayerische Erfindung.
Der Rausch an sich war früher positiv belegt, heute hat er eher einen negativen Beigeschmack. Woran liegt's?
Weil in früheren Zeiten – und das war bei den Rauschdrogen aus anderen Quellen ähnlich – diese Stoffe rar waren und nur wenige Kundige, Schamanen oder Priester, die Kenntnisse und die Befugnis hatten, wohl dosiert diese Rauschzustände zu erzeugen. Deswegen waren kurze, „rauschende“ Feste keineswegs destruktiv, sondern sehr konstruktiv. Sie haben die Menschen zusammengebracht und sicher auch die eine oder andere genetische Durchmischung bewirkt. Aber sie haben nicht dazu geführt, dass die Beteiligten in Abhängigkeiten geraten sind. Erst als diese Rauschmittel frei zugänglich und sehr billig wurden, ist die Gefahr des Missbrauchs und der Sucht gekommen.
Am Dienstag um 19 Uhr stellt Professor Josef Reichholf sein Buch „Warum die Menschen sesshaft wurden“ (Fischer Verlag, 19,90 Euro) im Staatlichen Museum für Völkerkunde, Maximilianstraße 42, vor. Der Eintritt ist frei.
Natalie Kettinger
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