Alt-OB Christian Ude: "Ich habe mich täuschen lassen"
AZ-Interview mit Christian Ude: Der SPD-Politiker war von 1993 bis 2014 Oberbürgermeister der Stadt. Er regierte mit den Grünen.
AZ: Stärkste Kraft bei Landtags-, Stadtrats-, Bundestagswahlen: Herr Ude, sind die Grünen endgültig die Münchner Volkspartei geworden?
CHRISTIAN UDE: Sie haben jedenfalls einen extrem guten Lauf, der nicht zufällig kommt. Sie sind beim Thema Klimawandel - und das ist ein Jahrhundertthema - Vorreiter gewesen und das wird honoriert. Das gilt für andere ökologische Themen auch. Bemerkenswerter an dieser Wahl finde ich aber etwas anderes.
Was?
Dass die beiden bisherigen Volksparteien in München derartig viele Federn lassen mussten. Wobei die drei Direktmandate, zu denen ich der CSU herzlich gratuliere, ein bisschen über die wahre Situation hinwegtäuschen.
Inwiefern?
Die CSU hat in München schreckliche Verluste hinnehmen müssen. Und sie weiß das auch.
Ude: "Erschütternde Ergebnisse wurden nie richtig aufgearbeitet"
Lassen Sie uns über Ihre Partei sprechen, über die SPD. Chefin Claudia Tausend hat vor der Wahl gesagt, sie sehe gute Chancen auf alle vier Direktmandate. Nun liegt man überall nur auf Platz 3. Warum konnte die SPD nicht vom Bundestrend profitieren?
Das ist die Kernfrage, die jetzt ernsthaft angegangen werden muss. Wir haben uns auch selber täuschen lassen von den demoskopischen Ergebnissen, die weit besser waren als die reale Lage. Ich glaube auch, dass die Ursachen nicht im Jahr 2021 liegen, in dem die SPD ja viele Punkte gewonnen hat, sondern in den Vorjahren, die niemals kritisch aufgearbeitet worden sind. Das hat offensichtlich tiefe Spuren hinterlassen, die jetzt beim Wahlergebnis wieder sichtbar wurden. Wir haben uns von bundesweiten Begeisterungswellen über die Realität hinwegtäuschen lassen. Das gilt auch für meine Person. Ich habe die Entwicklung seit dem Sommer auch überschätzt.
Für die spezifische Situation, dass es in München besonders schwierig war, haben Sie offenbar auch keine richtige Erklärung.
Nein, außer in Vorgängen der Vorjahre, die nicht verarbeitet worden sind. Es ist ja zum Beispiel nie kritisch über das Kommunalwahlergebnis geredet worden, obwohl es bei Lichte gesehen erschütternd war.
Was braucht es jetzt in der Münchner SPD? Neue Inhalte, neues Personal, neue Strategien?
Ich glaube, dass die Grundregeln eines erfolgreichen Wahlergebnisses alle miteinander beherzigt werden müssen, nicht nur der Wunsch nach einer guten Kampagne, die hat es zweifellos gegeben. Ich habe immer schon bei meinen ersten Wahlniederlagen in den 70er Jahren die These vertreten, dass es nicht ein Erfolgsrezept alleine gibt, sondern eine Vielzahl. Dazu gehört die Leistungsbilanz, die Selbstdarstellung, die Geschlossenheit und Verfassung der Partei und dann selbstverständlich ein gutes Programm mit konkreten Projekten und ein Personalangebot, das von der Bevölkerung gerne aufgegriffen wird.
Ein solches Personalangebot hatte die SPD bei dieser Wahl offensichtlich nicht.
Man hatte abgesehen vom hervorragenden, herausragenden Ergebnis auf der Bundesebene kein vergleichbar begeisterndes Personalangebot in der Landeshauptstadt, das ist richtig. Man hatte nicht mit der Leistungsbilanz gepunktet, sondern sie fast beschämt verschwiegen. Die Selbstdarstellung war in vielen Jahren sehr wenig geeignet, Menschen anzuziehen und zu begeistern. Vor allem in den Jahren, in denen die SPD zum Beispiel ein ganzes Kalenderjahr mit der Wahl der Vorsitzenden beschäftigt war oder Erfolge in der Großen Koalition immer eher bestritten hat.
"Die OB-Wahl 2026 wird eine riesige Herausforderung"
Sie haben persönlich im Münchner Norden für den sogenannten SPD-Rebellen Florian Post gekämpft. Er musste ja sogar Verluste hinnehmen. Woran lag das?
Er hat einen starken Vorgänger. Nämlich sich selber. Und er hat schon beim letzten Mal das zweitbeste Ergebnis in ganz Bayern geholt, ein sehr gutes Ergebnis. Ich kann nur sagen, dass der Trend zu den Grünen in ganz München sichtbar und spürbar geworden ist und die SPD es nicht geschafft hat, ihre früheren Stammwähler wieder anzusprechen oder zurückzurufen, das gilt leider auch für den Münchner Norden.
Aber?
Aber ich muss trotzdem darauf hinweisen, dass Florian Post in München das beste Ergebnis von allen SPDlern hat - und sogar das einzige über 20 Prozent.
Wen muss die SPD in München jetzt gezielt ansprechen? Geht es noch um die alteingesessenen Münchner oder muss man eher auf die jungen Zugezogenen setzen?
Man muss gezielt eine Mehrheit anstreben, die auch wirklich eine Mehrheit ist. Und das sind natürlich die alten Stammwähler aus der Arbeitnehmerschaft, die inzwischen zu einem großen Teil schon im Rentenalter sind. Aber es gilt auch für junge Leute wie Studenten, Leute aus der Wissenschaft, Frauen, die man nicht nur repräsentieren, sondern auch inhaltlich ansprechen muss, und es gilt für die jungen Leute, die etwa in der IT-Branche tätig sind und technikbegeistert sind. Diese letzte Gruppe scheint die FDP besser angesprochen zu haben. Und die Mieter, wo halt verständliche Konzepte hergehören. Ich glaube, dass die wenigsten genau wissen, was unter einer Reform des Bodenrechts verstanden wird und welche Auswirkungen das auf ihren persönlichen Haushalt hätte.
Mal ehrlich, wenn Sie auf 2026 schauen, wenn Dieter Reiter abtritt: Man muss sich eigentlich ernsthaft sorgen, dass die SPD in wenigen Jahren auch den OB-Sessel verliert - oder?
Ich wage nie, fünf Jahre vorauszublicken. Aber es ist richtig, dass die Voraussetzungen - in Bayern Liste 5, in München Platz 3 - für eine OB-Wahl eine riesengroße Herausforderung darstellen. Das darf man nicht wieder erst im Endspurt entdecken.