Alt-OB Christian Ude: Das ist mein neuer Corona-Alltag

München - Vorweg: Darf man in Zeiten von Katastrophenmeldungen und existenziellen Ängsten erzählen, dass diese Zeiten auch ihren Reiz haben? Klingt irgendwie herzlos und abgehoben. Ich meine aber: Man soll sogar! Sorgen und Depressionen haben wir schon genug, und sie machen die Sache auch nicht besser.
In der Stadt der Schäffler weiß man aber, dass man der Tristesse auch mal frech die Stirn bieten muss. Also: Denken Sie mal nicht daran, was Sie in der kommenden Zeit alles nicht dürfen, sondern erinnern Sie sich, was Sie in den vergangenen Jahren alles nicht geschafft haben. Hand aufs Herz! War es nicht jedes Jahr dasselbe?
Corona: Endlich mal mehr als den Klappentext lesen
Sie haben sich in den vier Jahreszeiten viel vorgenommen, aber nichts erledigt, sondern schlussendlich geschworen, alles "zwischen den Jahren" zu vollenden, in der angeblich endlosen Zeit zwischen Weihnachten und Dreikönig, wo man in aller Seelenruhe, ausgeruht und frohes Mutes alles Versäumte nachholen kann: die Bücher lesen, die man das Jahr über geschenkt bekam, die Zeitschriftenstapel entsorgen, die sich ohne unser Wollen und Zutun angehäuft haben, CDs anhören, Schubladen aufräumen, den Keller entrümpeln...
Und dann waren die paradiesischen Zeiten im Vorübergehen auch schon wieder vorbei, ohne dass wir von einem einzigen Buch mehr als den Klappentext gelesen hätten. So ging das von Jahreswechsel zu Jahreswechsel. Mit den Stapeln wuchs das schlechte Gewissen.
Aber jetzt! Heute frei und morgen frei. Die ganze Woche! Und die nächste wieder! Es kann Monate dauern! Und selbst der schönste Sonnenschein zwingt uns nicht, schon wieder spazieren zu gehen. Da ergibt es sich ganz von selbst, Schubladen auszuräumen und Platz zu schaffen.
Corona: In der Wohnung alles auf Hochglanz poliert
Ein paar beherzte Spenden für die Kleidersammlung, und schon ist wieder Raum in den Schränken! Einige Bücher erwiesen sich bei der Lektüre sogar als interessant und Musik erfüllt die Wohnung. Wir haben mehr klassische CDs, als wir noch wussten, und genießen sie schamlos. Experimentelle Musik schenken wir den Enkeln, das Leben ist schließlich kein Ponyhof.
Nächste Woche kommen die alten Möbel an die Reihe, die Politur habe ich mir schon besorgt. Silberschälchen, Tellerchen und Kännchen schauen mit Hochglanz jetzt schon besser aus. Nachbarn fragten mich neulich, wer eigentlich unser Kellerabteil so vorbildlich aufgeräumt habe, ob der nicht auch bei ihnen...
Nein, das kann der sicher nicht, fiel ich den Neugierigen ins Wort. Und das war nicht einmal gelogen. Ich muss nämlich erst noch die Kartons sichten und leeren, die ich 1990 beim Auszug aus meiner Kanzlei und 2014 bei der Räumung meiner Rathausregale notgedrungen mitgenommen habe. Ich wollte das alles irgendwann mal "zwischen den Jahren"...
Aber jetzt, in den Corona-Zeiten passiert es wirklich. Ist das nicht eine großartige Befreiung?
Corona-Krise: Münchner berichten
Corona bestimmt inzwischen unseren Alltag. Natürlich vor allen derjenigen, die im Gesundheitswesen arbeiten. Aber auch Polizisten, Lehrer, Bäcker, Handwerker, Büroangestellte, Kinder, Senioren (und diese Liste könnte man beliebig lange fortsetzen) spüren, dass die Pandemie ihr Leben gehörig verändert hat.
Diese neue Normalität, die sich doch auch immer noch bizarr anfühlt, wollen wir ab heute in der AZ in unserer Serie "Mein neuer Alltag" abbilden. Darin sollen ganz unterschiedliche Menschen zu Wort kommen und erzählen, wie Corona ihr alltägliches Sein bestimmt – oder auch, wo die Pandemie gar keinen so großen Einfluss auf sie hat.
Die Serie wird regelmäßig, aber nicht täglich, in der AZ erscheinen.
Lesen Sie hier: Hilferuf der Handwerker - "Bitte stornieren Sie keine Aufträge"