Als im Dachauer KZ eine tödliche Seuche ausbrach
München - Es geht ums nackte Überleben. Immer schon, doch in den letzten Apriltagen 1945 zählt jeder einzelne Tag. Denn inzwischen wissen auch die Häftlinge in den Konzentrationslagern, dass die Nazi-Herrschaft bald ein Ende hat. Die US-Armee rückt näher, täglich treffen neue Gefangene aus evakuierten Lagern ein. Und schleppen Krankheiten ein.
Das Dachauer Gelände ist ohnehin überfüllt. In den Stuben, die für Dutzende Menschen ausgelegt waren, hausen mittlerweile bis zu 600. Die hygienischen Verhältnisse sind entsprechend unzureichend. 1944 bricht im KZ Flossenbürg Typhus aus. Die bakterielle Infektionskrankheit wird von Häftlingen, die nach Dachau überstellt worden sind, mitgebracht.
Befreiung durch US Army: Für Infizierte ein Wettlauf gegen die Zeit
Für die Kranken werden Baracken eingerichtet. Die Toten werden täglich mehr, sie werden in Massengräbern auf dem Friedhof Leitenberg verscharrt. Von den SS-Wachen will sich keiner um die Infizierten kümmern. Zu groß ist die Angst vor einer Ansteckung.

Spätestens seit Ende März wissen gut vernetzte Häftlinge über ihre geheimen Informationskanäle, dass die US-Armee nicht mehr weit ist. Für alle Infizierten beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit – auch, weil das Gerücht die Runde macht, die SS plane Massenerschießungen. Stattdessen werden zahlreiche zu Fuß auf Märsche geschickt, viele sterben am Wegesrand. Nur wenigen gelingt die Flucht.
Am 26. April flieht der Lagerkommandant aus Dachau, einige Hundert SS-Männer bleiben, zum Schluss sind nur noch die Wachtürme besetzt. Die provisorische Leitung wird dem 23 Jahre alten SS-Untersturmführer Heinrich Wicker übertragen. Drei Tage später, am 29. April 1945, einem kalten sonnigen Sonntag, erreicht das 157. Infanterie-Regiment der 45. Infanterie-Division der US Army gemeinsam mit Soldaten der 42. Infanterie-Division das KZ. Neben dem Hauptlager steht der "Todeszug aus Buchenwald", darin 2.300 Leichen.
Damit sich die Epidemie nicht ausbreitet, bleiben Menschen isoliert
Auch im Camp selbst treffen die Befreier auf viele Tote. Mindestens 2.000 Menschen waren in den letzten Monaten der NS-Diktatur in Dachau an Gewalt, Unterernährung und nicht zuletzt an der Seuche gestorben. Die Überlebenden werden vom Eintreffen der amerikanischen Soldaten trotz nahender Geräusche von kreisenden Flugzeugen überrascht. Alle, die es noch schaffen, finden sich auf dem Appellplatz des Camps ein.
Für diejenigen, die bis dahin überlebt haben, beginnt eine bittere Zeit, 32.000 Menschen befinden sich am Tag der Befreiung im KZ: Damit sich die Epidemie nicht weiter ausbreiten kann, werden die Menschen weiterhin isoliert. Viele Befreite müssen wochenlang im Konzentrationslager ausharren. Die US-Soldaten verhängen eine strikte Quarantäne, keiner darf nach draußen. Die Armee droht sogar mit Erschießungen.

Eine harte Probe für alle, so vernehmen etwa die knapp 2.000 tschechischen Gefangenen Hilferufe von ihrer Heimatfront, an der noch gekämpft wird. Sie wollen so schnell wie möglich nach Prag. Im Camp macht sich zunehmend Unruhe breit. Täglich müssen zwischen 100 und 300 Tote bestattet werden. Das sogenannte Internationale Häftlings-Komitee, in dem die einzelnen Häftlingsgruppen ihre Interessen vertreten, soll Chaos verhindern.
Anfang Mai befreien US-Truppen die letzten Häftlingstransporte. Am 8. Mai 1945 unterzeichnet die Wehrmacht "die bedingungslose Kapitulation". Damit ist der Krieg offiziell beendet, vier Wochen später verlässt der letzte ehemalige Häftling das KZ Dachau.
KZ Dachau wurde zur Durchgangsstation für Häftlinge
Während die Nazi-Truppen im Osten und Westen immer mehr Gebiete an die Alliierten verloren, schickten sie die Gefangenen aus den Konzentrationslagern auf beschwerliche Märsche oder Transporte. Zum Jahreswechsel 1944/45 wurde das KZ in Dachau eine Durchgangsstation für Tausende Menschen.
Zu viele Häftlinge mussten unter katastrophalen hygienischen Bedingungen auf engstem Raum zusammenleben. Die neuen Lagerinsassen wurden zu Tausenden in den sogenannten Invalidenbaracken untergebracht. Ursprünglich galt für neue Häftlinge eine Quarantäne, ab November 1944 nahm die SS-Leitung den Ausbruch einer Krankheit im Lager aber billigend hin und setzte die Vorschrift aus.

Offenbar wusste der tschechische Inhaftierte und Lagerarzt Franz Bláha früh, dass Typhus in Dachau ausgebrochen war. Erst im Dezember wurden Maßnahmen zur Eindämmung ergriffen, offenbar hatten sich auch SS-Offiziere angesteckt. Einige Wohnblöcke wurden komplett isoliert. Die Menschen, die darin hausten, wurden schlicht ihrem Schicksal überlassen.
Geistliche widersetzten sich gegen Verbot und pflegten Todkranke
In den Seuchenbaracken – auch als Todesblocks bekannt – war das Personal erkrankt, gestorben oder geflohen. Ärzte kamen dort nicht mehr hin, Medikamente gab es offiziell keine. Während im Krankenrevier einige Zeit lang auch Geistliche als Pfleger aushelfen durften, waren sie in den Typhusbaracken nicht erwünscht.
Da sich der Wohnblock der polnischen inhaftierten Priester direkt neben dem Typhusblock befand, setzten sich die Geistlichen jedoch über das Verbot hinweg. Stefan Wincenty Frelichowski, ein junger Kaplan aus Polen, kletterte nachts als Erster in den Nachbarblock. Dort nahm er Sterbenden die letzte Beichte ab, wusch die Schwachen und pflegte die Schwerkranken. Weil sich keiner der Mitarbeiter mehr in die Todeszone traute, erhielt Frelichowski Anfang 1945 einen Passierschein – er sollte die Toten auf den Pritschen zählen.
In den folgenden Monaten rekrutierte er Helfer unter anderen Priestern. Ende Februar 1945 starb er selbst an der Seuche, mit der er sich während seiner Arbeit angesteckt hatte. Bis zur Befreiung kümmerten sich bis zu 35 Geistliche freiwillig um die Todkranken in den Typhusbaracken des Lagers. Zehn der Helfer starben, fünf von ihnen wurden selig gesprochen: Stefan Wincenty Frelichowski, P. Richard Henkes, P. Engelmar Unzeitig, P. Hilary Januszewski und Br. Józef Zaplata. Ihre Todestage jähren sich in diesem Jahr zum 75. Mal.
"Die Beschäftigung mit den Seligen von Dachau, mit ihren Biografien, ihren Gedanken und ihrer Spiritualität können uns gerade heute Hoffnung, Kraft und Mut geben", sagt Monika Neudert, Vorsitzende des Vereins Selige Märtyrer von Dachau, der sich für das Gedenken um die 2.000 inhaftierten Geistlichen einsetzt.
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