Als Hans-Jochen Vogel aufs Ganze ging

Wie Hans-Jochen Vogel München verließ – und für die SPD jahrzehntelang höchste Ämter ausübte. Und: eine persönliche Erinnerung des Reporters an seinen letzten Besuch beim Alt-Oberbürgermeister.
München - Was der Schlacht im Hofbräuhaus folgte, bei der Hans-Jochen Vogel seinen Genossen die Leviten las, war keine klare Entscheidung, weder Sieg noch Niederlage. Vielmehr versuchte man, den Grundsatzstreit, der schon die deutsche Sozialdemokratie insgesamt beunruhigte, durch einen Kompromiss zu lösen.
Keine Taktik, die Vogel liebte. Am 13. März 1971 wurde ein neuer Geschäftsführender Vorstand für die Münchner Partei gewählt und Vogel zum Vorsitzenden. Er fand jedoch eine "ganz schwierige Situation" vor, weil in verschieden Gremien nach wie vor Anhänger des linken SPD-Flügels den Ton angaben. Infolge der anhaltenden Querelen um Mehrheiten war Vogel damals – wie er in seinem Buch "Die Amtskette" enthüllte – "zunächst entschlossen, meine politische Tätigkeit zu beenden".
Die SPD drängt ihn, als Ministerpräsident zu kandidieren
Es kam anders. Bald wechselte er neue, hohe Ämter fast so oft wie das Handtuch, das er nun doch nicht warf. 1971 wurde er Präsident des Deutschen Städtetags. Im Mai 1972 erkor man ihn zum bayerischen Landesvorsitzenden der SPD, er blieb es sechs Jahre. Und er focht so manchen Streit mit seinem CSU-Pendant Franz Josef Strauß aus. Was er von diesem zehn Jahre älterem Parteiführer hielt, schleuderte er ihm mal mit einem bitteren Satz direkt entgegen: "Herr Strauß, es gibt Feuerwehrleute, sagt man bei uns in Bayern, die zündeln, um dann zu zeigen, was sie für famose Feuerwehrleute sind."
Kurze Zeit später löste er Karl Schiller im SPD-Präsidium ab. Schon im November des Olympia-Jahres holte ihn Kanzler Willy Brandt als Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau in sein zweites sozial-liberales Kabinett; in Bad Godesberg musste ich ihn für den "Kölner Stadt-Anzeiger" interviewen. Nach meiner Erinnerung war dabei viel die Rede von radikalen Reformen für die Städte und von dringend nötiger Abwehr einer Bodenspekulation.

Im April 1974 konnte ich melden, dass Vogel von zuständigen Gruppierungen der SPD – sogar von den Jusos, die kurz zuvor führerlos geworden waren – wiederholt aufgefordert wurde, sich als Bewerber für das Amt des bayerischen Ministerpräsidenten zur Verfügung zu stellen; er wollte aber nur, wenn eine starke Mehrheit seiner Partei seine politischen Ansichten teile. Eine Kompromisslosigkeit, die ihn durchaus mit seinem CSU-Widersacher verband, die aber mit sozialdemokratischer Streitlust weniger vereinbar war.
Vogel wird Feuerwehrkommandant einer alten, noch sehr erfolgreichen Gesamt-SPD
Vogel war nunmehr auch gar nicht mehr auf Bayern und München angewiesen, er wurde der Feuerwehrkommandant einer alten, noch sehr erfolgreichen Gesamt-SPD. Jetzt kämpfte er für Deutschland. Als Bundesjustizminister unter Helmut Schmidt setzte sich der neu verheiratete, praktizierende Katholik ab 1974 für die partnerschaftliche Ehe und (zunächst vergeblich) für ein Abtreibungsrecht mit Fristenregelung ein. Dem RAF-Terror begegnete er, der selbst 17 Jahre unter Personenschutz stand, so entschlossen kompromisslos wie gewohnt, er litt auch unter den Bluttaten und fühlte sich mitschuldig.
Im Januar 1984 musste er als Regierender Bürgermeister in Westberlin einspringen, verlor im Mai aber die Wahl gegen Richard von Weizsäcker. Von seiner Partei mehr oder weniger dazu genötigt, für das Kanzleramt zu kandidieren, verlor er im März 1983 gegen Helmut Kohl.
Als Nachfolger seines Intim-Feindes Herbert Wehner wurde ihm nun der Fraktionsvorsitz im Bundestag aufgebürdet. Weil andere Parteigrößen absagten, musste er, der das neue Grundsatzprogramm mitgeformt hatte, 1987 auch noch den Parteivorsitz übernehmen.
Auch im hohen Alter stritt Vogel noch über den richtigen Kurs der SPD
In der Münchner Partei indes spielte Vogel über Jahrzehnte nur die Rolle der Grauen Eminenz. Er diente ihr weiter als Berater, Redner, Vorzeigepolitiker, Mahner. Nicht wenigen auch als Idol und einigen nach wie vor als Besserwisser oder als rechter Flügelmann – der er tatsächlich nie war. Auch uns Münchner Journalisten kam er für längere Zeit abhanden.
Als er Anfang 2006 mit seiner Ehefrau Liselotte von der kleinen, bescheidenen Stockwerkwohnung im Lehel in die große, schöne Seniorenresidenz Augustinum umzog, fiel er keineswegs aus der Welt. Er blieb stark interessiert und engagiert, ein kritischer Beobachter des Zeitgeschehens, wobei ihn in letzter Zeit das Erstarken einer neuen Rechten sehr besorgt machte.

So lang es ging, besuchte er Veranstaltungen, gern im jüdischen Gemeindehaus. Mit einem seiner früheren Stadtdirektoren, der einst dem linken Parteivorstand angehörte (und jetzt depressiv in einem Pflegeheim lebt), stritt er noch oft über den richtigen Kurs der SPD. So lang es eben ging. Irgendwann musste er, der den öffentlichen Verkehr in München modernisiert und gern genutzt hat, auf den Rollator umsteigen; 2015 machte er bekannt, dass ihn "Herr Parkinson" begleite.
Ein Bürger unter Bürgern. Ein Genosse unter Genossen
Als ich Vogel kürzlich noch einmal besuchte, um ihm mein Buch "Münchner Meilensteine" mit seinem schönen Vorwort druckfrisch zu überreichen, wurde ich von ihm und seiner Frau spontan zum Mittagessen in einem stillen Eck des großen Speisesaals eingeladen.
Die Suppe schmeckte fad, ungewürzt, so wie halt in ziemlich allen Seniorenheimen. Kein Grund zur Beschwerde. Überhaupt: Herr Doktor Vogel genoss nicht die geringste Vorzugsstellung in dieser Gemeinschaft alter Menschen. Bis zuletzt blieb der Oberbürgermeister a.D. nur Bürger unter Bürgern. Und Genosse unter Genossen.
Für diese Serie verwendete der Autor u.a. seine Bücher "München 68" und "Rebellen Reformer Regenten" sowie "Die Amtskette" von Hans-Jochen Vogel.
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