Ärzte-Pfusch: Immer mehr Kunstfehler
München - Kranksein ist bedrohlich. Der geschwollene Lymphknoten, das Pochen im Kopf, die Schmerzen in der Hüfte – medizinischen Laien macht das erstmal Angst. Also vertraut man sich und seinen Körper einem Arzt an. Und fühlt sich gleich ein bisschen besser. Der wird schon wissen, was er macht. Umso schlimmer ist es dann, wenn Mediziner Fehler machen. Doch die Zahl der Fehlbehandlungen steigt. Und immer öfter geben ärztliche Gutachterstellen den Patienten Recht. Das ist das Ergebnis einer bundesweiten Statistik aller Schlichtungsstellen, die die Bundesärztekammer gestern veröffentlicht hat.
Wie sehen die Zahlen aus? Im vergangenen Jahr kamen ärztliche Gutachterstellen in bundesweit 2287 Fällen zu dem Ergebnis, dass Behandlungen, Diagnosen oder Patientenaufklärung fehlerhaft oder unzulänglich waren. Im Jahr 2010 waren es noch 2199 Fälle. Insgesamt beschwerten sich in Deutschland 11107 Patienten über ihre Ärzte. In Bayern beschwerten sich in diesem Zeitraum 1023 Patienten bei der Gutachterstelle der Landesärztekammer.
In rund 330 Fällen wurden Fehler festgestellt. Die Zahl der Beschwerden habe sich deutlich erhöht, sagt Dagmar Nedbal von der Bayerischen Landesärztekammer. „Das liegt aber nicht daran, dass die Ärzte schlechter geworden sind. Sondern daran, dass Patienten immer besser informiert sind und immer selbstbewusster werden.“ Und: Weil es immer mehr ältere Patienten gibt, „werden auch die schadensträchtigen Eingriffe zahlreicher“, so Andreas Crusius, Chef der Konferenz der Gutachterkommission bei der Bundesärztekammer.
Die tatsächliche Beschwerdezahl ist sogar noch höher, sie liegt bei 40000 pro Jahr – mit eingerechnet sind hier Beschwerden bei Krankenkassen oder vor Gericht. Wo wird am häufigsten gepfuscht? Besonders oft gab’s laut Bundesärztekammer Behandlungsfehler bei Hüftgelenksoperationen (80 Fälle) und bei Operationen am Kniegelenk (70 Fälle). Auch viele Behandlungen von Brustkrebs liefen schief. Mehr als 3800 mal warfen Patienten ihren Ärzten vor, bei Operationen geschludert zu haben. 721 Patienten erlitten Dauerschäden. Wie viele Patienten sterben? Schon die offizielle Statistik liest sich erschreckend genug: Laut Ärztekammer endeten die Ärztefehler für 99 Patienten tödlich. Viele von ihnen starben an Infektionen nach OPs, zum Beispiel an einer Blutvergiftung (s. auch den Fall unten), oder an zu spät erkanntem Krebs.
Das Statistische Bundesamt nennt fürs Jahr 2010 1634 Tote. Die Dunkelziffer liegt aber sogar noch viel höher: Das Aktionsbündnis Patientensicherheit hat mehrere Studien zur Sterblichkeit in Kliniken analysiert und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass schätzungsweise 0,1 Prozent aller Krankenhauspatienten in Deutschland wegen Fehlern im Behandlungsverlauf sterben. Bei jährlich 17 Millionen Patienten wären das rund 17000 Todesfälle. „Viel wichtiger als all die Statistiken wäre aber eine sinnvolle Prävention“, sagt Hartmut Siebert vom Aktionsbündnis.
„Erst 50 Prozent der Krankenhäuser in Deutschland haben ein Risikomanagement, das schon präventiv auf Fehlerquellen achtet. Davon müsste es viel mehr geben.“ Welche Rechte haben Patienten? Im neuen Patientenrechtegesetz ist erstmals die Aufklärungspflicht des Arztes gesetzlich verankert. Patientenakten sind sorgfältig zu führen – wenn nicht, gilt die Behandlung vor Gericht als nicht durchgeführt. Patienten erhalten das Recht auf Akteneinsicht und einen Rechtsanspruch, dass ihnen die Kasse bei der Beschwerde hilft.
Aber es bleibt dabei, dass Patienten bei einfachen Behandlungsfehlern per Gutachten den Ärztepfusch beweisen müssen. Nur bei „groben Behandlungsfehlern“ (wenn z.B. das falsche Organ entfernt wird), kehrt sich die Beweislast zugunsten des Patienten um. Das Gesetz soll ab 2013 gelten.
Ein Fall-Bericht: „Sie hat geschrien und gezappelt“
Die 85-jährige Mutter von Josef Mettler liegt stundenlang unversorgt in der Klinik – und stirbt.
Erst denkt Hermine Mettler, dass sie etwas Schlechtes gegessen hat. Ihr ist übel, sie ruft ihren Sohn Josef an. „Ich dachte, es ist nicht so schlimm“, erzählt er von dem Tag im Januar 2008. Seine damals 85-jährige Mutter lebte allein nahe Ingolstadt, litt an einem offenen Bein, war aber geistig fit. „Als ich am Nachmittag wieder anrief, klang sie verwirrt“, sagt Josef Mettler. „Das war ein Alarmzeichen für mich.“ Um 18 Uhr bringt der Notarzt Hermine Mettler ins Ingolstädter Krankenhaus. Dort sitzt sie dann mit ihrem Sohn in einem Wartezimmer. Für Stunden. „Es kam kein Arzt“, erzählt Josef Mettler.
„Um 23 Uhr sagte man, dass ich gehen könne, meiner Mutter gehe es gut. Nur noch ein paar kleine Untersuchungen.“ Als Josef Mettler am nächsten Tag gegen 11 Uhr in die Klinik kommt, findet er seine Mutter auf der Station. „Sie sah extrem schlecht aus“, sagt er. „Sie schrie und zappelte wie ein Fisch.“ Um ihr Bett war ein Gitter angebracht. „Der Knopf für den Schwesternruf war abmontiert, weil sie die ganze Nacht geläutet hat“, erfährt Mettler von einer anderen Patientin. Eine Schwester weist ihn ab. Seine Mutter sei verrückt. Er solle später kommen. Josef Mettler kann es nicht fassen.
„Ich bin durchs Krankenhaus gerannt und habe jeden gefragt: Sind Sie Arzt?“ So findet er zufällig den Stationsarzt, der gerade in einer anderen Abteilung aushilft. Der Arzt lässt sofort Blut abnehmen. Fünfzehn Minuten später steht fest: Blutvergiftung. Für Hilfe ist es schon zu spät. Hermine Mettler stirbt. Hätte man sie am Tag zuvor behandelt, könnte sie noch leben. „In der Notaufnahme wurde meine Mutter aber nur gewogen. Und das auch noch falsch.“ In der Akte standen 85 Kilo. „Dabei wog sie höchstens 63 Kilo.“
Hat jemand das Alter der Frau mit ihrem Gewicht verwechselt? Das sind Details einer groben Fehlbehandlung. „Ich halte das für fahrlässige Tötung“, sagt Josef Mettler. Der Trauernde stellt Strafanzeige gegen die Ärzte – und wird abgewiesen. Rechtsanwalt Michael Feuerberg weiß, weshalb: „Als Patientenanwalt stelle ich keine Strafanzeige, da die Gutachten immer zugunsten der Ärzte ausfallen. Sie sind nicht objektiv.“
Feuerberg rät Mettler zum Zivilprozess. Das war 2009. Anfang 2012 steht fest: Die Klage auf Schadensersatz war erfolgreich. Mettler erhält ein Schmerzensgeld von 5000 Euro sowie die Bestattungskosten, muss aber auch einen Teil der Prozesskosten zahlen. „Mir bleiben 2500 Euro“, sagt er.
„Viel mehr ärgert mich aber, dass der Prozess dubios lief.“ Das Klinikum Ingolstadt legte einen Teil der Patientenunterlagen erst 2010 vor – als die Beweisaufnahme schon abgeschlossen war. „Das ist eigentlich ein Betrugsversuch“, kritisiert Rechtsanwalt Feuerberg. Josef Mettler stellt jetzt erneut Strafanzeige. Außerdem hat er die „Patienteninitiative Ingolstadt (PAIN)“ gegründet, in der sich Betroffene helfen.
Info-Telefone: Hier bekommen Sie Hilfe
Haben Sie den Verdacht, dass Sie falsch behandelt wurden? Suchen Sie zunächst am besten das Gespräch mit dem Klinikdirektorium oder dem behandelnden Arzt. Um Gutachten kümmert sich die Gutachterstelle bei der Bayerischen Landesärztekammer (www.gutachterstelle-bayern.de, 089/309 04 830). Auch die Krankenkassen bieten häufig kostenfreie Unterstützung an (ab 2013 sind sie dazu gesetzlich verpflichtet). Darüber hinaus gibt es viele freie Beratungsstellen, z.B. die Unabhängige Patientenberatung Deutschland (0800/0 11 77 22, kostenfrei aus dem dt. Festnetz) oder die PatientInnenstelle München (089/76 75 51 31, www.patientenstellen.de).
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