Abreißkalender zeigt, wo München verschwindet

Zwei Münchner wollen mithilfe eines Kalenders zeigen, wie herzlos viele Neubauten sind - und wie schön die Häuschen an gleicher Stelle waren.
Hüseyin Ince
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Dieter Klein und Robert Hölzl haben auch für Wien einen Abreißkalender zusammengestellt. Klein (l.) kennt die Stadt gut, ist dort aufgewachsen.
Dieter Klein und Robert Hölzl haben auch für Wien einen Abreißkalender zusammengestellt. Klein (l.) kennt die Stadt gut, ist dort aufgewachsen.

Abreißkalender. So nennen das Dieter Klein sowie Robert Hölzl, was sie einst ins Leben gerufen haben. Und für 2023 haben sie wieder einen solchen zusammengestellt. Der Name des Kalenders ist bewusst doppeldeutig gehalten.

Massiver Abriss und "fantasielose Neubauten"

Denn natürlich könnte man jede Seite des Kalenders abreißen, sobald der Monat vorbei ist "und die Fotos der schönen alten Häuser einrahmen", sagt Dieter Klein. Aber eigentlich geht es den Männern eher darum, den erbarmungslosen, massiven Abriss und die "fantasielosen Neubauten" an deren Stelle mal in Form eines Kalenders zu demonstrieren - in der Kompaktheit dieses Formats.

Gezeigt werden mit "Vorher-Nachher"-Fotos auf jeder Monatsseite (siehe Foto unten), wie schön so viele Altbauten sein konnten, auch wenn sie teils nach dem Zweiten Weltkrieg - und der damit einhergehenden großen Zerstörung - recht zügig errichtet wurden. Oft stritten Lokalpolitiker leidenschaftlich um den Erhalt dieser Häuschen. Meist vergeblich, außer es bestand Denkmalschutz auf den Gebäuden.

Der Januar im Münchner Abreißkalender 2023. Gezeigt wird die Hochstraße 9 (oben) wie sie einst aussah. Zweites Bild unten: Ist-Zustand
Der Januar im Münchner Abreißkalender 2023. Gezeigt wird die Hochstraße 9 (oben) wie sie einst aussah. Zweites Bild unten: Ist-Zustand

"Münchner Maßstäbe"

Klein, Jahrgang 1942, ist der Initiator des Kalenders mit Ausblick in die Vergangenheit - und auch ein Mann vom Fach. Einst schrieb der promovierte Kunsthistoriker ein Buch über den Einfluss der Münchner Architektur auf die ganze Welt, "vor allem auf die Habsburger Länder", sagt er. So sehr sei die Baukunst Münchens international geschätzt worden. Das Buch trägt den Titel "Münchner Maßstäbe". München sei damals ein Architekturlabor und erste echte deutsche Kunststadt gewesen.

Zurück zum aktuellen Anliegen der beiden Männer
(die übrigens große Hochhauskritiker sind): Wem das alte München aus dem 20. Jahrhundert also noch gut gefiel, der kann und sollte sich diesen Abreißkalender besorgen. Mit dem Kartendienst Google Maps ist noch mehr Spielerei möglich.

Ein altes Stück München - nur noch auf Google Maps

Die Handwerker-Häuser an der Sailerstraße 6. Hundert Jahre standen sie. Dann folgte der Abriss.
Die Handwerker-Häuser an der Sailerstraße 6. Hundert Jahre standen sie. Dann folgte der Abriss.

Wer die Straßen des Kalenders digital aufruft, stößt in der Fotoansicht häufig auf Bildmaterial aus dem Jahr 2008. Denn das war auch die Zeit, in der Google München zum großen Teil abfotografierte. Die Sailerstraße 6 zum Beispiel kann man hier noch mit einer wunderschönen Patina betrachten - aber trotzdem mit intakten Gebäuden. Ein altes Stück München eben.

Heute steht hier statt der bunten Häuschen ein emotionsloser Betonblock mit Wohneinheiten.
Heute steht hier statt der bunten Häuschen ein emotionsloser Betonblock mit Wohneinheiten.

Den allerersten Abreißkalender stellte Klein über Wien 1984 zusammen. Auch dort werde die historische Bausubstanz nicht ausreichend geschätzt sowie geschützt. Und für Neubauten werde eben einfach abgerissen. Sein Bezug zu der österreichischen Hauptstadt: "Ich bin dort aufgewachsen, bis ich 20 war", sagt Klein. Seither wohnte er schon in vielen Stadtteilen Münchens, wie in Obersendling, Schwabing oder in der Maxvorstadt.

Grün war es hier einst jahrzehntelang, an der Fraunhoferstraße Ecke Isarring, samt Pizzeria und angeschlossenem Biergarten.
Grün war es hier einst jahrzehntelang, an der Fraunhoferstraße Ecke Isarring, samt Pizzeria und angeschlossenem Biergarten.
Und so sieht es an diesem Eck gegenüber dem Reichenbachkiosk heute aus.
Und so sieht es an diesem Eck gegenüber dem Reichenbachkiosk heute aus.

Etwa 60 Jahre sind seit Wien vergangen. Und die Vorgabe für den München-Kalender 2023 lautete: Zwölf Gebäude aus den letzten 20 Jahren, die niedergerissen wurden und an deren Stelle würdelose Betonklötze kamen. Doch Klein will auch nicht falsch verstanden werden: Vereinzelt findet er es auch sehr gelungen, was in letzter Zeit neu entstand, wie etwa das neue Volkstheater.

Wie immer erscheint der Abreißkalender in einer Kleinauflage, 300 Stück, beim Isar Media Verlag. Ab sofort bestellbar.

Dieter Klein, Münchner Abreißkalender 2023, 17,20 Euro, in allen teilnehmenden Buchhandlungen und bestellbar unter abreisskalender.info

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14 Kommentare
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  • Fluxxus am 11.10.2022 19:25 Uhr / Bewertung:

    Erinnert mich an den im Dumont-Verlag jährlich erscheinenden "Abrisskalender mit 365 Bausünden" von Turit Fröbe, der sich auf überregionale architektonische Geschmacklosigkeiten bezieht.

  • glooskugl am 11.10.2022 18:54 Uhr / Bewertung:

    Für das europäische Patentamt hat man seinerzeit die halbe Erhardstrasse samt seinen Hinterhöfen abgerissen. Krasser geht Wohnraum-Vernichtung gar nicht mehr.Das war eine richtig schöne Wohngegend an der Isar. Diesen Laden hätte man auch außerhalb der Stadt bauen können. Das alte Patentamt hätte man durch Mietshäuser ersetzen können....wäre besser gewesen.

  • Gelegenheitsleserin am 12.10.2022 13:11 Uhr / Bewertung:
    Antwort auf Kommentar von glooskugl

    @glooskugl
    Was meinen Sie mit dem "alten" Patentamt?
    Etwa das Hauptgebäude des Deutschen Patent- und Markenamts an der Zweibrückenstraße?
    Das ist eine andere Behörde als das Europäische Patentamt ...
    https://www.dpma.de/
    https://www.epo.org/index_de.html

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