90-Jährige stundenlang auf dem Nordfriedhof eingeschlossen

Stundenlang alleine in der Dunkelheit und hinter verschlossenen Toren - nur dank eines couragierten Helfers ging der Albtraum für die Seniorin noch einmal gut aus.
von  Guido Verstegen
Die Tore des Nordfriedhofs schließen im Winter täglich um 17 Uhr, dann gibt es noch eine einstündige "Karenzzeit". Im Fall der Seniorin half danach zum Glück Sinisa Horn aus.
Die Tore des Nordfriedhofs schließen im Winter täglich um 17 Uhr, dann gibt es noch eine einstündige "Karenzzeit". Im Fall der Seniorin half danach zum Glück Sinisa Horn aus. © Ursula Düren/dpa, privat

München - Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn Sinisa Horn sich am Donnerstag gegen 21 Uhr nicht zu einem späten Spaziergang entschieden und den Weg entlang des Nordfriedhofs gewählt hätte. Tags darauf kann sich der 46-jährige Musiker noch immer nicht so recht beruhigen. Dabei ist es doch eine so berührende Geschichte - wenn auch eine mit sehr fadem Beigeschmack.

"Der Friedhof war schon seit Stunden geschlossen, es war stockfinster und diese alte Dame mutterseelenallein", erzählt der in der Nähe wohnende Musiker im Gespräch mit der AZ.

Hausmeister-Ehepaar aus dem Bett geklingelt

Ein leises Wimmern habe er vernommen, sei am verschlossenen Tor eines Seiteneingangs stehengeblieben: "Da taucht eine alte Frau mit Rollator auf der anderen Seite des Tores auf und fleht um Hilfe", erzählt er. "Sie irrte schon seit Stunden dort umher. Sie wisse nicht, wo sie wäre oder wie sie herauskommen solle. Sie sei 90 Jahre alt und müsse nach Hause."

Horn versucht, die Dame zu beruhigen, bittet sie, am Tor auf ihn zu warten, bis er Hilfe geholt habe. Im Haus direkt neben der Aussegnungshalle sieht er noch Licht - er rennt rüber, erzählt schnell, was los ist. Doch aus der Gegensprechanlage heißt es lediglich, man fühle sich nicht zuständig, man habe auch keinen Schlüssel. Horn: "Vielleicht hat die Dame das nicht richtig überrissen. Das war ja nun beileibe keine Lappalie. In jedem Fall war die Reaktion dieser Leute in der Situation nicht angemessen."

Der Retter in spe eilt also zwei Häuser weiter, klingelt das Hausmeister-Ehepaar aus dem Bett. Sie nehmen ihn zunächst nicht ernst, kommen dann runter - doch die 90-Jährige steht nicht mehr am Tor. "Die haben gedacht, ich habe einen an der Klatsche, haben dann aufgeschlossen und am Tor gewartet."

Befreit!

Immer wieder laut "Hallo" rufend läuft Horn mit der Taschenlampe des Hausmeisters bewaffnet über den weitläufigen Friedhof, "gefühlte 20 Minuten". Er findet die Dame vollkommen verängstigt in der Nähe der Aussegnungshalle, führt sie zurück zum Tor. "Das hat nochmal eine gute halbe Stunde gedauert, weil die Gute doch so einiges hinter sich hatte und nun immer wieder Verschnaufpausen brauchte", so Horn.

Befreit! Die beiden setzen sich erst einmal auf eine Bank, die schwerhörige Frau atmet tief durch.

Um 17 Uhr schließen die Pforten des Nordfriedhofs im Winter offiziell. Doch der Sprecher vom Referat für Gesundheit und Umwelt (RGU) erklärt: "Wir haben eine Kulanzzeit von einer Stunde, damit die Menschen genug Zeit haben." Zudem läutet die Glocke der Aussegnungshalle. Er bedauere den Vorfall, sagt der RGU-Sprecher: "Wir müssen erst intern recherchieren. Klar ist: Es gibt Vorkehrungsmaßnahmen und selbstverständlich auch Notausgänge - da kann man raus, aber eben nicht rein."

Die fünfstündige Odyssee endet

Horn begreift vor allem nicht, dass er bei der Friedhofsverwaltung so abgespeist worden war. Der Sprecher weiter: "Wir haben selbstverständlich auch ein Interesse daran, dass das Ganze aufgeklärt wird. Wir wollen wissen, wer da an der Gegensprechanlage war und ob derjenige einen Schlüssel zum Friedhof hatte."

Horn erinnert sich: "Wie wir so da saßen, wurde uns klar, welches Glück wir hatten, beide zur richtigen Zeit am Seitentor des Friedhofs gewesen zu sein."

Das ungleiche Duo nimmt für eine Station die U-Bahn. Der 46-Jährige kutschiert die Seniorin noch ein Stückchen mit dem Rollator: Sie setzt sich auf dessen Gepäckablage. So endet die inzwischen knapp fünfstündige Odyssee an ihrer Haustür mit herzlichen Dankesworten.

Spontan gerührt

Als Retter will sich Sinisa Horn trotzdem nicht feiern lassen: "Feiern muss man diese starke alte Dame, die diesen schlimmen Marathon gemeistert hat."

Eine Szene dieses ereignisreichen und besonderen Abends wird der Künstler sicher so schnell nicht vergessen: "Wir sitzen auf dieser Bank, da holt sie einen Kamm aus ihrer Manteltasche und kämmt sich erst einmal das weiße Haar."

Da habe er tatsächlich feuchte Augen bekommen: "Ich weiß nicht, wann mich das letzte Mal jemand so spontan so gerührt hat."

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