84-Jährige seit einem Jahr in der Wohnung gefangen

SCHWABING Jetzt ist es schon ein Jahr her. Am 11.November 2011 haben vier Sanitäter Leonore Kasberger in ihrer Wohnung im zweiten Stock abgeholt, sie die Holztreppe hinuntergetragen, sie zu einer Untersuchung ins Klinikum Bogenhausen gefahren und sie anschließend wieder nach Hause gebracht. Es war das letzte Mal, dass die gehbehinderte Rentnerin ihre zwei Zimmer in einem Schwabinger Mietshaus verlassen hat.
Seitdem ist die 84-Jährige in ihrer eigenen Wohnung gefangen – seit zwölf Monaten bereits. Denn die Stiegen ins Erdgeschoss kann die Seniorin allein nicht mehr bewältigen.
Leonore Kasberger ist keine, die jammert. Sie hat 30 Jahre lang als Kinderkrankenschwester gearbeitet und sich ein Vierteljahrhundert für die Deutsche Parkinson-Vereinigung engagiert. Auch jetzt sagt sie: „Wenigstens sitze ich in meiner geliebten Schwabinger Wohnung und nicht in irgendeinem dunklen Loch. Und meine Geisteskraft habe ich zum Glück auch noch.”
Trotzdem will sie ihre Situation unbedingt ändern. Leonore Kasberger würde gerne in ein barrierefreies Pflegeheim nach Herrsching ziehen, wo sie Bekannte hat. „Dann könnte mich meine Freundin im Rollstuhl am See spazierenfahren. Oder ich könnte mit dem Lift zu meinem Elektromobil hinunterfahren.” Das feuerrote Gefährt, eine Art motorisierten Rollstuhl, hat sich Leonore Kasberger vor Jahren gekauft. Seit 2011 steht es unbenutzt in einer Garage ums Eck.
Doch für die Aufnahme ins Herrschinger Seniorenheim müsste ihr der Medizinische Dienst der Krankenkasse die Pflegestufe1 bescheinigen.
Zwei Mal wurde sie bereits überprüft, stets mit demselben Ergebnis: Ihren Haushalt kann die alte Dame zwar nicht mehr allein in Schuss halten – doch beim Waschen ist sie 19Minuten zu schnell für einen Pflegefall. Leonore Kasberger brauche im Schnitt 27 Minuten, haben die Prüfer ausgerechnet. Mindestens 45 wären für die erwünschte Einstufung notwendig (AZ berichtete).
Dabei ist Leonore Kasberger alles andere als gesund. Sie hat nur noch eine Niere und künstliche Kniegelenke. Ihre Beine schmerzen so sehr, dass sie kaum laufen kann. Wegen der mangelnden Bewegung hat sie Übergewicht. So drücken immer mehr Pfunde auf die mürben Knie – ein Teufelskreis, der die 84-Jährige zur Gefangenen gemacht hat.
Sie bekommt Essen auf Rädern, das Sozialamt zahlt eine Haushaltshilfe, die pro Woche fünf Stunden lang aufräumt, wäscht und putzt. Regelmäßig bringt jemand von der Bücherei neuen Lesestoff vorbei. Und jeden Mittwoch wird Leonore Kasberger von Mitarbeitern eines Pflegedienstes geduscht, den sie selbst bezahlt. „Alleine kann ich mir nur Gesicht, Hände und Arme waschen – das war’s. Ich kann doch kaum stehen.”
Von den Pflegekräften weiß Leonore Kasberger, dass sie nicht der einzige alte Mensch in München ist, der seine Wohnung nicht mehr verlassen kann. „Ich gehöre zu einer großen Gesellschaft”, sagt sie. „Das einzige, was mich von meinen Leidensgenossen unterscheidet, ist, dass ich einen Computer habe, mit dem ich Briefe schreibe: an die Zeitung, an die Krankenkasse und und und.” Das Internet ist ihr Fenster zur Welt.
Ende November kann sie bei ihrer Krankenkasse erneut einen Pflege-Antrag stellen. „Dann geht’s wieder von vorne los.” Doch diesmal will Leonore Kasberger alles anders machen. „Beim letzten Mal bin ich in meinem Sessel gesessen und habe Fragen beantwortet.” Aus ihren Angaben wurden dann die Bedarfszeiten errechnet. „Diesmal werde ich die Herrschaften im Nachthemd empfangen und ihnen zeigen, wie schwer es mir fällt, mich alleine zu waschen und anzuziehen”, sagt sie kämpferisch.
Ein Jahr eingesperrt in den eigenen vier Wänden – was hat sie am meisten vermisst? „Ich bin mit meinem Elektromobil immer gerne ins Café Münchner Freiheit gefahren. Im Sommer. Wenn draußen alle Tische besetzt sind. Dann habe ich einen Cappuccino getrunken und die Leute beobachtet. Das fehlt mir schon.”
Früher sei sie außerdem oft im Theater oder in der Oper gewesen, erzählt die alte Dame. Den Spielplan verfolgt sie nach wie vor. „Ich wäre so gerne in die Oper Babylon gegangen”, sagt Leonore Kasberger traurig. „Ich glaube, das hätte mir gefallen.”