77-Jährige steht plötzlich ohne Geld da: "Ich wollte mich umbringen"

Elsa G. ist bestohlen worden: Ihr Nachbar räumte heimlich ihr Konto leer. Jetzt lebt die 77-Jährige von Milch und Brot.
Von Julia Lenders
Sie hat viel geweint. Tagelang. Wochenlang. Elsa G. war völlig verzweifelt. Der Tag, an dem für sie die Welt zusammenbrach, war der 28. Juli – ihr 77. Geburtstag. Das war der Tag, an dem die Bank ihr plötzlich kein Geld mehr geben wollte. „Ich wusste überhaupt nicht, was los ist“, sagt die alte Dame. Sie hatte immer sparsam gelebt. Aufs Geld geachtet. Damit wenigstens ein bisserl was da ist, wenn sie einmal Hilfe braucht. Rund 11 000 Euro hatte sie auf der hohen Kante. Doch jetzt war nichts mehr davon übrig. Das konnte, das durfte nicht sein. Frau G. begriff: sie war bestohlen worden. „Das hat mir einen Stich ins Herz gegeben.“ Gemeinsam mit einer Freundin durchforstete sie ihre Kontoauszüge. Die hatte sie zwar brav abgeheftet, aber nicht intensiv gelesen – es war ja bislang alles in Ordnung gewesen.
"I kannt mia ins Hirn nei haun“, ärgert sich die alte Dame über sich selbst. Erst jetzt bemerkte sie, dass ein Teil der Unterlagen komplett fehlte. Auf einigen der neueren Auszügen aber waren Überweisungen an einen Mann dokumentiert, dessen Namen der 77-Jährigen gänzlich unbekannt war. Je 150 Euro hatte er von ihrem Konto bekommen. Und das zum Teil mehrfach im Monat. 150 Euro? Konnte das noch der Beitrag für eine alte Lebensversicherung sein? Eigentlich hatte sie doch alles gekündigt... Langsam fügte sich ein Puzzleteilchen ins nächste.
Schnell fiel der Verdacht auf ihren Nachbarn, Holger H. (Name geändert). Der sei vor seiner Verrentung Versicherungsmakler gewesen, erzählt Elsa G. Auch sie hatte Policen bei ihm abgeschlossen. Irgendwann hatte er ihr sogar geholfen, einen Überweisungsträger auszufüllen. Das war es, was sie jetzt stutzig machte. Das Verhältnis zwischen ihnen war gut gewesen. Ab und an trank man ein Glaserl Wein miteinander. Konnte er das wirklich getan haben? Sie stellte ihn zur Rede. Zuerst stritt Holger H. alles ab. „Doch dann hat er’s zugegeben“, sagt Elsa G.
Nur Milch und Brot: „Ich spare beim Essen, der Monat ist lang“
Sie ging zur Polizei, schaltete eine Anwältin ein. Inzwischen ermittelt auch die Staatsanwaltschaft. Der Betrug war ausgetüftelt – und er lief schon seit Jahren. „Da steckte sehr viel kriminelle Energie dahinter“, sagt die Anwältin Judith Kowalski von der Kanzlei "Busse & Partner". Nach ihren Recherchen muss das Ganze so abgelaufen sein: Der Nachbar hat im Namen von Frau G. bei deren Bank Überweisungsträger beantragt. Dann behielt er offenbar den Briefkasten der 77-Jährigen im Blick – in den kann man von außen hereingreifen. Immer wieder ließ er von ihrem Konto Geld an einen Mittelsmann überweisen, an seinen Spezl. Dafür ahmte er die Unterschrift von Elsa G. nach. Die Postbank bestätigt: „In den Jahren 2006 bis 2010 sind insgesamt mehr als 100 Überweisungsaufträge (meist 150 Euro) zugunsten eines bestimmten Empfängers vorgelegt worden.“ 90 davon sind ausgeführtworden. Zu den anderen kam es nicht, weil das Konto nicht gedeckt war. Von all dem bekam Frau G. nichts mit. „Ich gehe davon aus, dass der Nachbar in den ersten Jahren regelmäßig die Kontoauszüge aus dem Briefkasten von Frau G. gefischt hat – damit der Betrug nicht auffliegt“, sagt ihre Anwältin. Bis die alte Dame eines Tages beschloss, die Belege lieber selbst bei der Bank abzuholen.
Frau G. und ihre Anwältin wollen die Postbank verklagen
Allein: Sie bemerkte auch weiterhin nicht, dass etwas nicht stimmte. Wie viel Geld Holger H. seiner Nachbarin exakt geklaut hat, ist noch unklar. Die Bank habe 200 bis 400 Euro dafür verlangt, die alten Überweisungen nochmal zusammenzustellen, sagt Anwältin Kowalksi. Eine Summe, die ihre Mandantin nicht mehr hat. „Ich gehe aber davon aus, dass es rund 13 000 Euro waren.“ Bei einem Telefonat mit dem Täter bemerkte die Juristin: „Er wusste selbst nicht, wie viel er abgezwackt hat. Er ist spielsüchtig und brauchte das Geld.“ Inzwischen hat er ein Schuldanerkenntnis über die 13 000 Euro unterschrieben und einer Ratenzahlung in 30 oder 50 Euro-Schritten zugestimmt. Doch bei dem etwa 65-Jährigen ist nichts zu holen. Und sein Spezl – der, an den das Geld zuerst ging – fühlt sich unschuldig. Er habe seinem Freund nur eine „Gefälligkeit“ erwiesen und von gefälschten Überweisungen nichts gewusst.
Jetzt wollen Frau G. und ihre Anwältin die Postbank verklagen. Doch das Geldinstitut weist jede Mitverantwortung von sich. Dort heißt es auf AZ-Anfrage: Über Jahre hinweg hätte es keinen Hinweis über „angeblich unberechtigte Buchungen“ gegeben – trotz Zusendung der Kontoauszüge. Und: Die Unterschriften auf den Überweisungsaufträgen hätten „in den charakteristischen Merkmalen mit der bei uns hinterlegten Unterschrift unserer Kundin“ übereingestimmt. Soweit zum Krimi. Die Ermittlungen laufen weiter.
Für Frau G. waren die letzten Monate allerdings mehr als bloß ein Detektiv-Spiel. „Das war das Schlimmste, was ich je erlebt hab. Dass der mich so abgezockt hat, war katastrophal.“ Sie hatte ihr Leben lang hart gearbeitet, zuletzt als Raumpflegerin im Bayerischen Nationalmuseum. Mit ihrer Rente kam sie gut aus, 900 Euro imMonat. Das reicht nicht für große Sprünge. Aber ihre 38-Quadratmeter-Wohnung konnte sie immer bezahlen. Und plötzlich stand die 77-Jährige mit 2000 Euro Schulden da – um diesen Betrag war ihr Konto schon überzogen, als der Betrug aufflog.
"Ich habe überlegt, ob ich mir Rattengift kaufe“
Die alte Frau, die keine Familie hat, verfiel in völlige Verzweiflung. „Ich wollte mich umbringen. Ich habe überlegt, ob ich mir Rattengift kaufe.“ Doch sie macht weiter. Seit dem Sommer spart sie sich so viel wie möglich vom Mund ab. Milch, Brot, Käse, Marmelade – mehr ist nicht drin. „Ich spare beim Essen, der Monat ist lang.“ Inzwischen ist es ihr, auchmit einer Spende des Weißen Rings, gelungen, das Minus fast auszugleichen. Doch in den schwarzen Zahlen ist sie noch nicht. Wenn sie einmal ihre Miete nicht selbst bezahlen müsste, dann wären die Schulden getilgt. Was noch wichtiger ist als das: Langsam kehrt die Zuversicht zurück. Frau G. kann schon wieder lachen. „Ich bin eine kleine Kämpferin.“
Die AZ-Spenden-Aktion - so können Sie helfen:
Mit Spendengeldern aus der Aktion „Münchner helfen“ will die Abendzeitung einen Beitrag dazu leisten, in Not geratene Menschen in unserer Stadt zu unterstützen. Wenn das Geld für dringende Anschaffungen nicht reicht, wenn die Betroffenen unbürokratische Hilfe brauchen, will die AZ einspringen. Dafür brauchen wir Ihre Spenden, liebe Leser. Über die schweren Schicksale einiger Menschen haben wir bereits berichtet. Von den gespendeten Beträgen sollen sie profitieren, aber auch andere, über die wir nicht schreiben konnten: Münchner mit schweren Krankheiten oder alte Leute, denen es an allem fehlt. Ein Teil des Geldes kommt bedürftigen Kindern zugute. Durch die Gründung des Vereins „Münchner helfen e.V.“ ist es uns möglich, Spendern direkt Bescheinigungen (ab 200-Euro-Spenden) fürs Finanzamt auszustellen. Das Spenden-Konto des AZ-Vereins: Privatbank DONNER & REUSCHEL Konto-Nr.: 333 888 333 BLZ: 200 303 00