70 Jahre Abendzeitung München - Erstausgabe vom 16.06.1948 als Download

Wenn ich meine Zeit in den frühen Jahren der Abendzeitung nach sieben Jahrzehnten Revue passieren lasse, dann drängt sich in meine Erinnerung ein Kollegium von sonderbaren Menschen, wie sie vielleicht nur im Journalismus und allenfalls noch im weiten Feld der Künste gedeihen können. Jedenfalls in Umbruchzeiten wie damals, als fast alles neu war.
Jeder und jede war ein Typ, manche waren skurril, einige extravagant, alle begierig auf die begonnene Demokratie. Die meisten der im Folgenden skizzierten Kollegen sind früh verstorben – ein Merkmal ihres hektischen Berufes. Etliche haben sich verewigt, nicht nur durch flüchtige Zeitungstexte, sondern auch durch Bücher.
Der Zeitungsmacher

"Die Themen liegen auf der Straße, Sie brauchen sich nur zu bücken": AZ-Gründer Werner Friedmann. Foto: Fosch/AZ-Archiv
Gleichsam als "Aufmacher" wäre der Zeitungsmacher schlechthin zu nennen: Werner Friedmann. Einer seiner Leitsätze: "Die Themen liegen auf der Straße, Sie brauchen sich nur zu bücken." Der elegante Herr, der mir, dem 19-jährigen Abiturienten, diese Weisheit im Herbst 1947 auf den inzwischen langen Berufsweg mitgab, erschien uns Nachwuchsjournalisten als ein legitimer Nachfolger des "rasenden Reporters" Egon Erwin Kisch. Anders als jener war Münchens Friedmann weder Literat noch Globetrotter. Der Sohn eines jüdischen Kinderarztes hatte das Dritte Reich trotz Berufsverbots und Haft sauber durchgestanden und versuchte nun, als einer von vier "Lizenzträgern" und Chef einer Redaktion von Anti-Nazis, die wegen der Kriegsschäden noch lange im Maschinenkeller arbeiten mussten, die Süddeutsche Zeitung allmählich zum Weltblatt zu entwickeln.
Als auf dem Messegelände für Mai 1948 eine Presse-Ausstellung geplant war, hatten die dafür zuständigen Offiziere der US-Army eine Idee: Vor den Augen der Besucher sollte eine komplette Zeitung hergestellt werden. Sie bemühten sich auch um eine Sonderzuteilung des damals knappen Rotationspapiers. Der 38-jährige Friedmann lieh sich jüngere Journalisten von der Süddeutschen Zeitung und vom Münchner Merkur aus.
Vom 6. Mai an wurde Die Tageszeitung an 41 Tagen gedruckt, jeweils mittags, mit immerhin 70.000 Exemplaren und vier bis sechs Seiten. Sie enthielt Meldungen aus allen klassischen Ressorts und führte die ersten "Kampagnen", wobei zum Beispiel hübsche "Münchner Madln" gesucht und abgebildet wurden.
Es war die erste täglich erscheinende Zeitung und das erste Boulevardblatt in der amerikanischen Zone, die von Wiesbaden bis Berchtesgaden reichte. Die Welt der Presse, das Thema der Ausstellung, fand besondere Beachtung. Schon in der vierten Nummer stand die Meldung: "Journalisten sind hungrig."
Das waren gewiss andere auch. Geradezu verschlungen wurde eine vom britischen Historiker Trevor Roper stammende Serie über "Hitlers letzte Tage". Viel wusste man ja noch nicht.
Den Münchnern sowie den Amis gefiel das frische Blattl, auch nach unterhaltsamer Information hungerte man. Deshalb sollte es nach der Ausstellung, die mit einem großen Feuerwerk und dem Ausschank von acht Hektolitern Dünnbier endete, zunächst noch drei Monate weiterleben. Papier besorgten wieder unsere Freunde und Besatzer.
Der Altmeister
Am 16. Juni 1948 erschien sie erstmals: die Abendzeitung. Untertitel: "Unabhängiges Münchner Nachrichtenblatt". Als Chefredakteur holte Herausgeber Friedmann den zwanzig Jahre älteren Walter Tschuppik aus dem Schweizer Exil. Dieser war einer der Letzten der alten Prager Schule und vor 1933 Friedmanns Chef bei der Süddeutschen Sonntagspost, für die er aufgedeckt hatte, dass sich der Österreicher Hitler die deutsche Staatsbürgerschaft durch einen Trick erschlichen hatte.
Nach Beendigung meines Volontariats in der SZ durfte auch ich ein paar Räume weiter zur AZ umziehen.
Im August wurde mir die wichtige Seite Drei überantwortet, für die ich mit meinen geringen, in der SZ-Auslandsredaktion gewonnenen Erfahrungen sogar kommentieren musste. Wir hatten damals noch keine Leitartikler, keine Korrespondenten und natürlich auch keine Reporter für Sonderaufträge.
So musste ich das Meiste, was auf meine Seite sollte, selber "featuren", wie man das lesbare Zusammenstellen von Fremdmaterial nannte. Als Quellen dienten auswärtige Zeitungen und das schon reichliche "Dienstmaterial" (außer der Agentur "dena" gab es "südena" und "dpd").
Auch zwang mir Tschuppik oft lange, langweilige Riemen auf (etwa über die Abwertung des Franken), die er aus Schweizer Zeitungen schnipselte.
Mit ungebrochenem Einsatz, vielleicht auch mit einem gewissen Übermut, stürzten wir Jungen uns in die Arbeit. Diese war miserabel bezahlt und begann schon im Morgengrauen, denn die Abendzeitung kam nicht etwa am Abend, sondern in aller Früh' auf die Straße. Eine interessante Probebühne für Journalisten, in denen, laut Friedmann, "die Flamme der Leidenschaft brennen" sollte. Diese Zeitung speziell sollte "bei allem Pfeffer intelligent gemacht sein", verlangte er.
Gern schickte er dem einen oder anderem Kollegen einen Zettel mit Lob oder Tadel. Auch ich bekam mal eine Rüge: wegen Nächtigungen auf aufgehäuften Zeitungen im Redaktionsbüro. Meist blieben ja zwischen Dienstende und -beginn nur wenige Stunden, so dass ich mir gern mal den Heimweg durch die Sendlinger Straße, wo man als junger Mann laufend von Dirnen angemacht wurde, sparen wollte.
Frühmorgens also, sobald das ungefähr 15-köpfige Redaktionsteam versammelt war, schlüpfte Altmeister Tschuppik in Strickjacke und Hausschuhe und spielte uns am Klavier den selbstkomponierten "Abendzeitungsmarsch" vor. Arbeitspausen vertrieb er sich vorzugsweise beim Schachspiel mit dem seriösen Nachrichtenredakteur Dr. Hans Burggraf.
Ansonsten sprühte er vor Ideen. So knallte er erstmals große Fotos auf Seite 1. "Eine Revolution", lobte der für Presse zuständige US-Offizier Ernest Langendorf. Der Ex-Frankfurter hatte sich für die neue Zeitung stark gemacht und sie später eine der "besten lesbaren Zeitungen Deutschlands" genannt.
Die tägliche Sensation

Die sogenannte "HALT-Meldung" – für die allerletzten Nachrichten. Foto: AZ-Archiv
Obendrein mussten wir jungen Redakteure noch des nachts das eingehende Nachrichtenmaterial sichten. Jeden Morgen mussten sämtliche leitende Redakteure im Haus, also auch die der SZ, einen "Monitor" bekommen mit den fein aufgegliederten Themen des anbrechenden Tages. Dabei halfen Mitglieder der sogenannten Lehrredaktion, aus der bald das – von der Staatsregierung als gemeinnützig anerkannte - Werner-Friedmann-Institut hervorging (das dann bis 1950 Herausgeber der Abendzeitung war) und später die Deutsche Journalistenschule, der wiederum viele Kollegen mit klingendem Namen entsprossen sind.
Etwas systematischer wurde der Betrieb in der blutjungen Abendzeitung, als der bisherige Archiv-Mann Heribert Kühn den Posten eines Nachtredakteurs übernahm. Diese Knochenarbeit schaffte der Ur-Berliner nur durch den Konsum von ungeheuren Kaffee-Mengen, so dass er später eine regelrechte Koffein-Entziehungskur machen musste.
Mein Freund Heribert starb früh, nachdem er – noch als Chef vom Dienst beim Berliner Tagesspiegel angeheuert – mir aus der geteilten Stadt unbezahlbare Informationen verschafft hatte. Tolle Einfälle hatte Tschuppik vor allem beim Erfinden von Schlagzeilen, die oft noch rot gefärbt oder unterstrichen waren. Die kürzeste lautete: "Das Atom". Sowas machte Angst. Einmal titelte er mit Riesenlettern: "Rücktritt des bayerischen Kabinetts." In viel kleinerer Schrift konnte man darüber entziffern, dass Selbiges der Abgeordnete Soundso gefordert hatte.
Weitere originelle Neuheiten waren eine täglich gezeichnete Wetterkarte sowie die sogenannte "HALT-Meldung": In jeder Ausgabe wurde ein Platz freigehalten für eine allerletzte Nachricht. Die musste der Volontär Gunther Haas mit einer Adressiermaschine auf eine Blechplatte stanzen, die dann einfach (auf die Druckvorlage) "gematert" wurde. Oft stand völlig Belangloses drin, etwa das Ergebnis des Fußball-Totos – oder der Kasten blieb ganz leer. Mehrmals wurde Haas vom Boss auf der Stelle gefeuert, um aber am nächsten Morgen stillschweigend wieder anzutreten. (Der Unauffällige überlebte noch mehrere Chefredakteure.)
Buidl und Bikini
Das "Brot der frühen Jahre" – um einen anderen Dichter-Titel zu zitieren – verdienten wir nicht nur mit kleiner und großer Politik, wir versuchten uns auch an flotteren Themen. So "fietscherte" ich eine Geschichte aus "France Dimanche" über die an der Côte d’Azur aufkommende Marotte des nächtlichen Nacktbadens ("Nudisme Nocturne"). Dazu stellte ich ein passendes "Buidl" und kolportierte den Begriff "Bikini" (nach dem Bomben-Atoll).
Bald waren Pin-up-Girls tabu. Denn nach einer Übersee-Reise, über die er die hübsche Serie "Mein Spazierstock und Amerika" schrieb, war Altmeister Tschuppik überzeugt: "Alles nur Draht, wie ich mich selbst überzeugen konnte."
Morgen lesen Sie: Wenn in der Redaktion die Messer flogen
Abendzeitung München Erstausgabe als PDF-Download
Die erste Titelseite der Abendzeitung. Die komplette Erstausgabe von 1948 erhalten Sie hier als Download. Sie trägt im Kopf deshalb die Nummer 42, weil ihre Vorgängerin, die Tageszeitung, während der Presseausstellung in München an 41 Tagen erschienen war.
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Chefredakteur Michael Schilling: Dafür steht die Abendzeitung