50 Jahre U-Bahn in München: Der Wettlauf zum Marienplatz

München - Die Blaskapelle der Straßenbahn schmetterte den Bayerischen Defiliermarsch, als am Morgen des 6. Juli 1967 die beiden ersten weiß-blauen Züge in den festlich geschmückten Bahnhof Studentenstadt einrollten. Am Führerstand saß Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel. Die zwei Kilometer lange Strecke in Schwabing war in einer Rekordzeit von nur 30 Monaten für die Testfahrt der Münchner U-Bahn gebaut worden. Und die Entwicklung des Prototyps für den künftigen U-Bahn-Zug hatte gerade mal 2,5 Millionen Mark verschlungen.
Mit ungewöhnlichem Aufwand hatte bereits im Mai 1938 der Bau einer U-Bahn in München begonnen. Hitler wollte damit das "München des 20. Jahrhunderts" starten. Deshalb musste weder auf die Kosten noch auf spätere Rentabilität Rücksicht genommen werden. Sogar Fernzüge sollten unterirdisch verkehren. Doch 1941 wurden die dröhnenden Dampfhammer vom Goetheplatz abgezogen. Der auf 589,60 Meter Länge ausgehobene Stollen wurde zum Luftschutzbunker. Nach dem Krieg diente er, soweit nicht mit Bombenschutt aufgefüllt, zur Zucht von Champignons.
Per Schlauchboot unter der Lindwurmstraße hindurch
Erst im Juni 1952 taucht die Münchner Untergrundbahn wieder aus der Versenkung auf. Ein Antrag der Bayernpartei im Stadtrat fordert alle Dienststellen auf, bei ihren Planungen dem Bau einer Hoch- und U-Bahn ihr "besonderes Interesse" zuzuwenden. Das Projekt sei für München mit nunmehr 870.000 Einwohnern eine Lebensfrage. Die Alternative wäre, die Innenstadt für jeglichen Verkehr zu schließen, was man einer Millionenstadt in spe wohl nicht zumuten könne.
Zwischen Ziegelmauern und Luftschutzkübeln durchqueren Sachverständige 1955 per Schlauchboot die unterirdische Lindwurmstraße, um die Eignung des verfallenen "Nazi-Tunnels" für eine etwaige "Unterpflasterbahn" zu erforschen. In der geplanten "Schalterhalle" hat sich derweil das Grundwasser meterhoch angesammelt. Rund 4000 Kubikmeter werden ausgepumpt. Die Paddeltour im Untergrund und Gesteinsproben aus 380 Bohrlöchern machen alle voreiligen Pläne zunichte. Wegen des lockeren Bodens aus feinstem Sand und weichem Kalkstein bedarf es besonders gründlicher und daher kostspieliger Absicherungsmaßnahmen. Es muss jetzt das Doppelte oder Dreifache der Schätzkosten in Rechnung gestellt werden.
Die Untergrund-Lösung drängt. Schon droht München im Verkehr zu ersticken. Den fast 90.000 zugelassenen Kraftfahrzeugen – ein deutscher Rekord – ist die Innenstadt nicht mehr gewachsen. Ein neuer Versuch ist der, von den Außenbezirken auf verkehrsärmeren Straßen zur City sogenannte "Eilbusse" einzusetzen. Bei der Probefahrt stellt sich aber heraus, dass die 45 eigens konstruierten Busse auch nicht schneller fahren als die gute alte Tram.
Als noch klar wird, dass sich der 50-Pfennig-Fahrpreis nicht halten lässt, muss sich der Stadtrat zur Vollbremsung entschließen.

Am 15. Dezember 1959, auf den Tag genau zwei Jahre nach Geburt des millionsten Bürgers namens Thomas Seehaus, beschließt der Stadtrat bei einer einzigen Gegenstimme, die Straßenbahn in der Innenstadt auf einer schließlichen Gesamtstrecke von 17,2 Kilometern unter die Erde zu verlegen. Für den ersten Bauabschnitt dieser "Tiefbahn" (wie man nun die ursprüngliche, holprige "Unterpflasterstraßenbahn" umbenannt hat) auf der "klassischen Linie" Stachus-Marienplatz wird ein Planfeststellungsverfahren eingeleitet.
Im Juni 1960, vier Wochen nach Amtsantritt des jungen Oberbürgermeisters Hans-Jochen Vogel, erreicht die Stadt einen Kompromiss mit der Bundesbahn. Was seit Jahren unmöglich schien, soll nun schon unmittelbar nach dem Eucharistischen Weltkongress im August am Hauptbahnhof, begonnen werden: der Bau eines ersten Abschnitts der künftigen Tiefbahn durch die Stadt und zugleich eines unterirdischen Wendebahnhofs als Ausgangspunkt einer späteren S-Bahn, der in zwei bis drei Jahren erstehen soll. Alle vier Minuten soll hier ein Zug auf fünf Vorortstrecken verkehren.
Die U-Bahn-Bauer sind jedoch schneller
Die U-Bahn-Bauer sind aber schneller. Am 1. Februar 1965 gibt Ministerpräsident Alfons Goppel am Nordfriedhof das Signal zum Einbringen des ersten, 18 Meter langen Stahlträgers in ein vorgebohrtes Erdloch. Die unterirdische Nord-Süd-Bahn, auf die man sich schließlich geeinigt hat, soll 11,5 Kilometer lang werden, voraussichtlich 450 Millionen Mark kosten und in zehn Jahren fertig sein. Etwa gleichzeitig soll die Bundesbahn zwischen den Münchner Großbahnhöfen einen 4,5 km langen Verbindungstunnel ("V-Bahn") bauen, der mit der städtischen U-Bahn tariflich und verkehrstechnisch verbunden ist und etwa 615 Millionen Mark kosten wird.
Zur Gründung einer "Münchener Tunnelbau GmbH" verweigern die Bundesminister Seebohm und Dahlgrün allerdings ihre Unterschrift, um keinen Präzedenzfall für das Begehren anderer Städte zu schaffen. Auch muss man ein Fernsehteam aus Leipzig, das den ersten und die weiteren Spatenstiche filmen will, unter Werkspionageverdacht vom Platz weisen.
"Wir werden mit den Kollegen von der Stadt ein Wettrennen zum Marienplatz veranstalten," verkündet Bundesbahndirektor Otto Bullemer nach Baubeginn im November 1965. Immer noch wird das Projekt als "V-Bahn" gehandelt, wobei das V nun auch für 412 Kilometer Vorortstrecken mit 124 Bahnhöfen stehen soll. Technisch plant man auf hohem Stand, psychologisch gibt es allerdings noch ein Problem: "Um die hohe Fahrleistung von 36 000 Personen je Stunde und Richtung zu erzielen, muss nicht nur der Verkehr, sondern auch die Münchner Bevölkerung beschleunigt werden", bullert Bullemer, der früher in Berlin mitgebaut hat. Vor allem müssen die Bahnsteige erhöht werden. "Die königlich-bayerische Eisenbahnverwaltung," begründen die modernen Eisenbahner, "hatte sich wohl gedacht, die Bayern sind gute Bergsteiger".

Statt der Unterpflasterbahn entscheidet sich der Stadtrat endlich doch für eine "weltstädtisch-adäquate Lösung", wie der neu bestellte U-Bahn-Referent Klaus Zimniok in einem Buch zu Betriebsbeginn feststellt. Tatsächlich entwickeln seine von weither angeheuerten Ingenieure teilweise revolutionäre Techniken, wie den "Eisernen Maulwurf". Mehr als 40 000 Interessenten aus 50 Ländern lassen sich daher durch die Baustellen führen. Lange vor Inbetriebnahme wird Münchens U-Bahn zum internationalen Studienobjekt.
Einen unerwarteten Schub bringt dann die Zuteilung der Olympischen Spiele 1972 für die wachsende Isar-Metropole. Während in anderen deutschen Städten die Ausführung von unterirdischen Verkehrssystemen wegen der abflauenden Baukonjunktur ins Stocken gerät, erfährt Münchens U-Bahn-Projekt eine deutliche Beschleunigung. Günstige Angebote von Tiefbaufirmen bringen außerdem erhebliche Einsparungen. So kann schon bald nach dem ersten Spatenstich gleichzeitig an einem Dutzend Baustellen gebuddelt werden. An den verschiedenen Baulosen zwischen Marienplatz (wo die 350 Jahre alte Mariensäule zeitweise weichen muss) und dem Nordfriedhof (später die wichtigste Zubringerstrecke zum Olympiapark) arbeiten Fachleute aus 13 Nationen, "einschließlich Preußen und Nigerianer", wie es im Richtspruch heißt.
Kaum zu glauben: Es wird billiger als im Kostenvoranschlag
Erstmals in Deutschland wird der personelle Einsatz durch Computer zentral gesteuert. Mithilfe der Netzplantechnik "Sinetik" spuckt das Rechenzentrum von Siemens binnen Minuten komplizierte Baupläne aus, kalkuliert Zwischenfälle, entwirft Alternativpläne und reduziert Verzögerungen auf ein Mindestmaß. Daher sind die täglichen Arbeitspläne immer aktuell.
Bei einem Bauabschnitt in Schwabing wird die Zeit um drei Wochen unterboten, während die Kosten um eine Million Mark unter den Voranschlag fallen. Verknüpft ist die elektronische Bauleitung auch mit der Großbaustelle am Stachus, wo die Bundesbahn ihre S-Bahn (so der endgültige Name) gestartet hat.
Es dauert dann aber doch noch bis zum 19. Oktober 1971, bis die ersten "Geisterzüge" der städtischen U-Bahn auf einer zwölf Kilometer langen Strecke durch den Untergrund rasen. Weniger ruhmreich ist der Probelauf der S-Bahn, die nicht weniger als 2,5 Milliarden Mark gekostet hat. Die Eröffnungsfeier im Mai 1972 wird durch einen totalen Lichtausfall unterbrochen, und noch Monate später muss die Bundesbahn fast täglich Betriebsstörungen und Verspätungen bis zu zwei Stunden melden, fünf Mal sogar eine "totale Störung". Ingenieure und Planer haben offenbar unter dem Druck der Olympia-Termine zu schnell arbeiten müssen. Doch der neue Tarif- und Verkehrsverbund von U-, S- und Straßenbahn (MVV) besteht am Ende doch die große Bewährungsprobe – bei den Olympischen Sommerspielen.
Und heute? Längst hat der Ballungsraum München das von der Fachwelt anerkannt effektivste Stadt- und Nahverkehrsnetz Deutschlands. Die S-Bahn verkehrt derzeit auf einer Gesamtstrecke von 434 Kilometern, die U-Bahn auf rund 95, die Tram auf 79 Kilometern. Zum Verbund gehört auch ein Busnetz mit einer Linienlänge von insgesamt 6323 Kilometern. 692 Millionen Fahrgäste werden 2015 gezählt. Tendenzen weiter stark steigend. Eine neue Herausforderung.