300.000 Münchner sind arm: "Kann entweder den Strom zahlen oder essen"

München - Diesen Herbst haben sich die Stromkosten von Jörg Mertens mehr als verdoppelt. Von 40 Euro auf 90 Euro im Monat. Selbst in den neuen Bürgergeld-Sätzen sind nur rund 40 Euro für Strom vorgesehen. Wo der gelernte Verwaltungsmitarbeiter die 50 Euro jetzt monatlich herbekommt? Er weiß es nicht.
"Ich kann entweder den Strom zahlen oder essen", sagt der 60-Jährige. Er hat im Halswirbelbereich mehrere kaputte Bandscheiben, trotz Tabletten sind seine Schmerzen so stark, dass er nicht arbeiten kann – und von Hartz IV lebt. Sein Budget für Lebensmittel sei durch die Inflation geschrumpft. Die Produkte, die er in den Einkaufskorb legt, kosten im Schnitt 20 Prozent mehr als zu Jahresbeginn.
23.000 Münchner auf Lebensmittel von der Tafel angewiesen
In München leben laut Sozialreferat 300.000 arme Menschen. Also Menschen, die sich wichtige Grundbedürfnisse, wie Nahrung, Mobilität oder Teilhabe nicht leisten können. 23.000 Menschen in München sind auf die Lebensmittelspenden der Tafel angewiesen. Die Zahl der Gäste ist so hoch wie nie, sagt der ehrenamtliche Vorsitzende Axel Schweiger.
Dort haben sie ein Notfalltelefon eingerichtet, für Menschen, die ganz akut kein Geld für Essen haben. "Vorher hat da vielleicht einmal im Monat jemand angerufen, jetzt sind es täglich um die fünf Anrufer." Den sozialen Vereinen und Trägern der Wohlfahrt kommt in München gerade eine zentrale Rolle zu. Aber was tut die Stadt in diesem Krisenrekord-Winter, dass niemand in der kalten Wohnung sitzen muss oder nicht ausreichend essen kann?
Keine Backofengerichte mehr wegen Strompreisen
Axel Schweiger erzählt, dass viele Tafelgäste jetzt kein Aufbackbrot oder Gerichte, die man im Backofen zubereitet, mehr mitnehmen würden. Um weniger Strom zu verbrauchen. "Die Leute, die hierher kommen, sind sowieso schon Sparweltmeister", sagt Schweiger. Anders als in der öffentlichen Debatte oft behauptet, bekommen Menschen mit Hartz IV und Grundsicherung neben der Miete nur die Heizkosten vom Sozialamt. Die Stromrechnung zahlen sie selbst. "Wir sind bestimmt nicht die, die alles laufenlassen, nur weil es das Amt übernimmt", sagt Jörg Mertens.
Auch die Münchner Sozialverbände, wie der Paritätische Wohlfahrtsverband, die Caritas oder der VdK berichten von zusätzlichen Sorgen ihrer Zielgruppe. Es sind oft Menschen, die zuvor irgendwie über die Runden kamen. Doch bei der ätzenden Mischung aus Energiekrise, teurem Wohnraum und Inflation wüssten sie einfach nicht mehr weiter und fürchten, was als Nächstes kommt. Es sind chronisch Kranke, Menschen, die wegen Unfällen oder Erkrankungen früher mit dem Arbeiten aufhören mussten, Rentner und Alleinerziehende mit Kleinkindern.
Zentrale Wärmeräume für alle?
Im Sommer gab es eine kurze bundesweite Diskussion, ob Städte für Menschen, die sich das Gas nicht mehr leisten könnten, zentrale Wärmeräume einrichten sollten. Es erinnerte an das, was der ukrainische Präsident jetzt vorhat, an Zeichnungen aus der vergangenen Jahrhundertwende oder an die Schwarz-Weiß-Fotos aus den 20er Jahren. "In München sind Wärmeräume derzeit keine Diskussion", sagt dagegen Frank Boos, Sprecher des Sozialreferates der Stadt.

Aber nicht, weil das Geld dafür fehlt, sondern: "Weil es immer noch der Anspruch sein muss, dass die privaten Wohnungen der Menschen beheizt werden können." Zudem sei es keine gute Idee, wenn man seine Wohnungen tagsüber leer stehenließe und dann in eine kalte Wohnung zurückkehre. Die würde in der feuchten kalten Jahreszeit durch Schimmel schnell unbewohnbar. Also keine Wärmeräume. Aber wie wird den Menschen in der teuersten Stadt im Bundesgebiet dann geholfen?
Hilfspaket für Januar
Die Stadt ist gerade dabei, ein großes Hilfspaket für den Januar fertig zu schnüren. Dieser Wärmefond enthält 20 Millionen Euro, die die Stadtwerke aus zusätzlichen Erlösen der Windenergie gewonnen hat. Das gesamte Budget soll für Menschen mit niedrigem Einkommen bereitgestellt werden. In Form von "möglichst unbürokratischen" Einmalzahlungen.
Beraten wird die Stadt dabei von den freien sozialen Trägern. "Wir arbeiten da gerade auf Hochtouren zusammen, dass die Hilfen pünktlich im Januar ausbezahlt werden können", sagt Karin Majewski vom Paritätischen Wohlfahrtsverband. Sie ist selbst dabei im Beratungsgremium der Stadt. Um das Geld möglichst einfach zu denjenigen zu bringen, die es brauchen, werden neben den Sozialbürgerhäusern auch Alten- und Servicezentren oder Beratungsstellen der sozialen Träger zu Anlaufpunkten für die Hilfen. Dazu hat die Stadt auch einzelne zusätzliche Personalstellen bei den sozialen Trägern geschaffen.
Wärmefond für Haushalte
Wie viel Geld die Berechtigten pro Person im Januar aus dem Wärmefond bekommen sollen, wollen weder das Sozialreferat noch die Verbände derzeit beantworten. Darüber würde noch verhandelt. Berechtigt seien jedenfalls alle, die einen München-Pass haben, sagt Karin Majewski, "da wurde die Berechtigung ja schon geprüft".
Oder wenn die Armutsbetroffenen einen Einkommensnachweis und die Heizkostenabrechnung mitbringen. In München gelten Menschen dann als arm, wenn sie in einem Singlehaushalt weniger als 1.540 Euro monatlich zur Verfügung haben.
Majewski verspricht sich viel von der Hilfe, sie hofft, dass die größte Not in Familien, bei kranken und alten Menschen dadurch gelindert werden kann. Daneben hat die Stadt bereits im Juli ebenfalls für Menschen mit niedrigen Einkommen einen Stromkostenzuschuss beschlossen, der bereits ausgezahlt wird. Ein entscheidender Punkt sei auch, dass die Berechtigten Bezugspunkte haben, wo sie von den unterschiedlichen Hilfsangeboten erfahren. Das alles sei wichtig, aber die Stadt und soziale Einrichtungen könnten nicht ausgleichen, sagt Majewski, wo bundesweite Sozialleistungen nicht ausreichen.
Höhere Hartz IV-Sätze
Deshalb fordern der Paritätische Wohlfahrtsverband und auch der VdK schon länger, den Hartz-IV-Regelsatz nicht wie kürzlich beschlossen von 449 auf 502 Euro zu erhöhen, sondern auf knapp 700 Euro. Erst dann könnten die Grundbedürfnisse gedeckt werden und ein Mindestmaß an Teilhabe.
Jörg Mertens, der sich bereits im Sommer der Initiative #armutsbetroffen auf Twitter angeschlossen hat, unterstützt diese Forderung. Gemeinsam mit Hunderten anderen postet er seine Erfahrungen und Perspektiven auf Armut und Reichtum in Deutschland.
Mertens wohnt in einer 34-Quadratmeter-Wohnung in Neuhausen. "Wenn nur eine Person zu Besuch ist, muss einer schon aufs Bett ausweichen", sagt er.

Stadtwerke sollen Erhöhung übernehmen
Die rasant gestiegenen Preise bedeuten für ihn, was sich Normal- und Gutverdiener kaum vorstellen können. "Da wird dann eine Thunfischdose in der Mitte geteilt – als Tagesration", sagt Mertens. Wenn er Glück hat, bekommt er bei der Bäckerei ein "Brot vom Haken". Das ist eine Initiative, bei der Kunden ein zweites Brot kaufen und es Bedürftigen hinterlegen können. Eine ausgewogene Ernährung ist das nicht. Das Beispiel zeigt, wie die derzeitige Situation längerfristig die Gesundheit armer Menschen angreift.
Dass solche Zustände entstehen, ist schwer zu verstehen, wenn viel die Rede von der Ausweitung des Wohngelds, höheren Regelsätzen und der Energiepauschale ist. Aber gerade beim Wohngeld sind Münchner Sozialverbände frustriert. Viele Kommunen und Landratsämter waren auf die Ausweitung schlicht nicht vorbereitet. Und München war mit der Bearbeitung der Anträge sowieso schon zwölf Monate im Rückstau.
Wirklich helfen, um die akute Not zu lindern, würde etwas anderes, sagt Jörg Mertens. Neben den 700 Euro statt 502 Euro Grundsicherung, "würde es helfen, wenn die Stadtwerke uns jetzt mit den Stromkosten entgegenkommen und zumindest die Erhöhung übernehmen".
Zusätzlich appelliert er an die MVG, beim Sozialticket für 31 Euro künftig nicht mehr Fahrten von sechs bis neun Uhr auszuschließen. Gerade um diese Zeit müssten Menschen wie er häufig zu Arztterminen. Und auch hier gelte: "Wir sind nicht die, die dann den öffentlichen Nahverkehr verstopfen, wenn wir nicht wirklich irgendwo hinmüssen."