14510 Münchner bekommen Hartz IV – trotz Arbeit

Immer mehr betrifft das Problem: Viele von ihnen haben sogar einen Vollzeit-Job. Ein Grund dafür sind auch die hohen Mieten      
von  Julia Lenders
Es gibt exakt 3427 Menschen in München, die trotz ihres Vollzeit-Jobs zu wenig verdienen, um damit ihren Lebensunterhalt zu bestreiten
Es gibt exakt 3427 Menschen in München, die trotz ihres Vollzeit-Jobs zu wenig verdienen, um damit ihren Lebensunterhalt zu bestreiten © vario images

Immer mehr betrifft das Problem: Viele von ihnen haben sogar einen Vollzeit-Job. Ein Grund dafür sind auch die hohen Mieten

Sie gehen arbeiten. Und haben trotzdem nicht genug Geld zum Leben. Immer mehr Münchner sind auf Sozialleistungen angewiesen, obwohl sie einen Job haben. „Aufstocker“ werden sie umgangssprachlich genannt – weil der Staat ihr Gehalt aufstockt. Sandra S. ist eine von ihnen. In der Arbeitsmarktstatistik wird dagegen offiziell von „erwerbstätigen Arbeitslosengeld-II-Beziehern“ gesprochen. Die AZ hat diesem Phänomen nachgespürt.

Wie viele Betroffene gibt es?

In München gab es zuletzt 14510 „Aufstocker“. Ihre Zahl ist innerhalb der vergangenen fünf Jahre stark gestiegen – um mehr als 33 Prozent. Niedriges Einkommen und hohe Mieten – bei dieser Kombination bleibt vielen der Gang aufs Amt nicht erspart. Auch wenn sie lieber allein für sich aufkommen würden „Das ist natürlich ein drastischer Anstieg“, sagt Felix Magin vom Jobcenter München. „Sicher ist einer der Gründe der Mietanstieg.“

Wie viel arbeiten die Aufstocker?

- Rund 24 Prozent und damit etwa jeder Vierte von ihnen ist voll beschäftigt. Es gibt exakt 3427 Menschen in München, die trotz ihres Vollzeit-Jobs zu wenig verdienen, um damit ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Weil sie mies bezahlt werden. Oder weil das Geld einfach nicht reicht, um eine Familie zu ernähren.

- Rund 2260 Menschen müssen „aufstocken“, obwohl sie monatlich mehr als 1200 Euro brutto verdienen. Für einen Alleinstehenden mag das noch irgendwie reichen – wenn denn die Wohnung bezahlbar ist. Knapp die Hälfte dieser Münchner hat aber Kinder.

- Ein großer Teil der Aufstocker (genau: 45 Prozent) hat einen Mini-Job. Andere arbeiten in Teilzeit. Und 1521 Münchner haben sich selbstständig gemacht – kommen mit ihrem Verdienst aber nicht über die Runden. Ihre Zahl hat sich innerhalb von nur fünf Jahren verdoppelt. „Das liegt auch an der Wirtschaftskrise“, sagt Magin.

Wen trifft das Problem?

In München beziehen mehr Frauen als Männer Hartz IV trotz Arbeit. Hier liegt die Frauen-Quote nämlich bei fast 53 Prozent. Oft sind alleinerziehende Mütter betroffen.

Kind und Beruf?

- Ohne staatliche Hilfe ist das für viele nicht machbar. Zumal jeder, der Kinder hat, weiß, wie schwer es in München ist, einen Kita-Platz zu finden. In rund 23 Prozent aller „Aufstocker“-Haushalte leben Alleinerziehende mit ihren Sprösslingen.

- Ein Viertel der Betroffenen sind 50 Jahre und älter.

- Überdeutlich ist der Zusammenhang mit dem Ausbildungsgrad der „Aufstocker“.

- Mehr als die Hälfte von ihnen hat gar keine abgeschlossene Berufsausbildung. Dagegen gibt es kaum Akademiker, die zusätzlich zu ihrem Job auf Arbeitlosengeld angewiesen sind. Mehr als die Hälfte aller „Aufstocker“ sind Ausländer.

Wie viel Geld bekommen die Münchner „Aufstocker“?

Das variiert stark. Einen Durchschnittswert kann das Jobcenter nicht nennen. Generell gilt aber: Sie haben am Schluss etwas mehr Geld zur Verfügung als arbeitslose Hilfe-Empfänger – denn für das Erwerbseinkommen der „Aufstocker“ gelten gewisse Freibeträge.

Wie fällt der Vergleich mit anderen Städten aus?

„Es ist und bleibt ein Großstadt-Phänomen“, sagt Jobcenter-Sprecher Felix Magin. In München gehen immerhin 27,6 Prozent aller Hartz-IV-Bezieher einer Beschäftigung nach. In anderen westdeutschen Großstädten mit ebenfalls hohem Mietniveau ist der Anteil der „Aufstocker“ ganz ähnlich. Das gilt zum Beispiel für Hamburg oder Frankfurt am Main. Im Osten Deutschlands bekommen sogar noch mehr Menschen staatliche Hilfe, obwohl sie arbeiten. Der Grund: Die Löhne dort sind niedriger.

Wie äußern sich Politik und Gewerkschaften dazu?

Die Münchner DGB-Chefin Simone Burger sagt: „Das ist ein zentrales Problem.“ Schlechte Löhne würden auch noch subventioniert, „und insofern Arbeitgeber, die schlecht bezahlen“. Ihre Forderung: „Wir brauchen einen Mindestlohn.“ Der löse zwar auch nicht alle Probleme, sei aber eine „erste Haltelinie“.

Ein Problem sei auch der immense Anstieg von Teilzeit-Jobs in München. Es gebe immer Menschen, die eigentlich mehr arbeiten wollten – aber nicht die Möglichkeit dazu bekämen. „Es müsste einen Anspruch darauf geben, in Vollzeit zu arbeiten“, sagt Burger. Fakt ist: Von März 2002 bis Juni 2011 nahm die Zahl der Teilzeitbeschäftigten in der Stadt um rund 32 Prozent zu.

Auch Münchens Sozialreferentin Brigitte Meier fordert: „Es muss Schluss sein mit den Niedriglöhnen. Wir brauchen Mindestlöhne, von denen man in München leben kann.“

 

 

 

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