Interview

10.000 Schritte in München: "Wir sind Stadtverführer"

Tobias Röckl und Synthia Demetriou eint die Liebe zu München. Zusammen haben sich die beiden Profi-Stadtführer15 Routen ausgedacht – und das Ganze in ein Buch gepackt.
von  Hüseyin Ince
Tobias Röckl und Synthia Demetriou am Marienplatz vorm Neuen Rathaus. Ein täglicher Startpunkt vieler touristischer Touren in München
Tobias Röckl und Synthia Demetriou am Marienplatz vorm Neuen Rathaus. Ein täglicher Startpunkt vieler touristischer Touren in München © Foto: Sigi Müller

München - Das gesunde Maß an Bewegung – seit Generationen ein Dauerthema. Gut, dass es da eine neutrale Institution gibt, wie die Weltgesundheitsorganisation. Sie empfiehlt 10.000 Schritte pro Tag. 

Zwei Stadtführer in München: Vom Schreibtischjob an die frische Luft

Das ist auch das Motto, mit dem sich eine gleichnamige Buchreihe beschäftigt. Die München-Ausgabe haben Tobias Röckl und Synthia Demetriou geschrieben. Gemeinsam gründeten sie zudem das Münchner Stadtführungsunternehmen "Ludwig und Lola". Ein Gespräch über Corona, den Traumjob und Lieblingstouren.

AZ: Herr Röckl, Sie waren zwanzig Jahre lang Grafikdesigner, mit stundenlanger Arbeit am PC. Was hat sich verändert, seit Sie Stadtführungen machen?
TOBIAS RÖCKL: Ich habe noch bessere Laune und bin deutlich gesünder.

Frau Demetriou, was hat sich für Sie geändert, seit Sie keinen reinen Schreibtischjob im Marketing mehr haben?
SYNTHIA DEMETRIOU: Ich friere nicht mehr so schnell, wie das früher oft gewesen ist. Da muss es jetzt schon ordentlich kalt sein.

Aber am Anfang war die Umstellung bestimmt schwierig, oder?
TR: Überhaupt nicht.
SD: Auch für mich nicht. Das Problem war ein ganz anderes.

Keine Führungen zum Lockdown in München: "Alle Buchungen wurden storniert"

Nämlich?
SD: Wir haben uns bei der Ausbildung zum Stadtführer kennengelernt. Und als wir gemerkt haben, dass wir uns gut verstehen, gut zusammenarbeiten können und die Agentur gegründet haben, war es Januar 2020.

Oh. Kurz vor dem ersten Corona-Lockdown.
SD: Es war ein denkbar ungünstiger Zeitpunkt. Von heute auf morgen kamen keine Touristen mehr nach München. Alle Buchungen wurden storniert.
TR: Es ist zum Verzweifeln gewesen. Wir hatten plötzlich keine Arbeit mehr. Es fühlte sich an wie ein Berufsverbot.
SD: Und keiner wusste, wie lang das alles geht. Die Stadt war leer.

Online-Touren durch München als Notlösung: "Wir haben die Touristen per Handy mitgenommen"

Jetzt möchte ich natürlich auch wissen, wie Sie die Zeit überstanden haben, beinahe drei Jahre mit Corona-Einschränkungen.
TR: Wir durften uns nicht verrückt machen, mussten uns etwas einfallen lassen, hatten schon Unmengen Zeit und Geld investiert, das Unternehmen zu gründen. Und nach einigen Wochen Ratlosigkeit hatten wir die Idee: Online-Touren. Auf Youtube und auf Facebook. Jeden Sonntagvormittag um zehn Uhr, durch die Au, in der Innenstadt, zum Chinesischen Turm, München und das Bier, entlang des Auer Mühlbachs oder durch den Nymphenburger Park.

Wie lang waren diese Rundgänge?
SD: Einige hatten bestimmt mehr als 10.000 Schritte. Wir haben die Touristen, die nicht nach München kommen konnten, per Handy auf eine Stadttour mitgenommen. Durch unsre Online-Präsenz ist auch der Kneipp-Verlag auf uns aufmerksam geworden, für den wir das Buch schreiben durften: 15 Touren, mit je 10.000 Schritten in München.

Wie wurden diese Online-Touren angenommen?
SD: Die Leute mochten sie gern. Wir haben irgendwann virtuelle Weihnachten und virtuelles Oktoberfest mit den Touristen gefeiert. Tobias und ich, wir nahmen sie mit in die Stadt, auf die Theresienwiese, zum Marienplatz, zeigten ihnen, wie schön es in München ist. Die Online-Touren wurden immer beliebter.
TR: Wir hatten irgendwann einige Hundert Teilnehmer pro Tour. Regelmäßig. So viele Gäste kann man als einzelner Stadtführer in echt gar nicht mitnehmen.

Besteht da nicht die Gefahr, dass sich die Leute mit der Online-Tour begnügen und überhaupt nicht mehr nach München kommen?
SD: Im Gegenteil. Es war ein Appetitmacher. Jetzt, nach Corona, kommen die Touristen und wollen die virtuelle Tour mit uns persönlich gehen und München in echt sehen.

"Stadtführen heißt: Die Welt kommt zu dir"

Welche Tour sollte ich eigentlich machen, um München besser zu kennen?
TR: Die Stadtgeschichtliche natürlich. Das ist die Tour Nummer 15 im Buch. Beginnt am Marienplatz und führt an der ersten und an der zweiten Stadtmauer entlang. Man geht in einer Spirale die Stadtgeschichte ab. Sie endet am Marienplatz und man hat viele gute Plätze für Pausen.

Was reizt Sie so sehr daran, Menschen aus aller Welt München zu zeigen?
SD: Für mich ist die Antwort einfach. Das war auch der Grund, weshalb ich meinen Marketingjob bei einem Fernsehsender aufgegeben habe. Tourismus hat mich schon immer interessiert. Und außerdem, Stadtführen heißt: Die Welt kommt zu dir. Du musst nicht in die Welt hinaus, um die Leute zu treffen. Und wir können die Stadt aus unserer persönlichen Perspektive zeigen.
TR: Uns macht es Spaß, unterhaltsam Wissen zu vermitteln, Münchens Geschichte, Bayerns Geschichte, kulinarisches Wissen. Es ist eine Stärke von uns. Ohne dieses Talent und diesen Spaß würde es kaum funktionieren.

Hat Ihre Ausbildung bei der späteren, also heutigen Berufswahl eine Rolle gespielt?
SD: Ich hatte da schon eine gute Grundlage. Ich habe Kommunikationswissenschaft, Italienisch und Politik studiert.
TR: Wenn du dich für Menschen, Kulinarik und Geschichte interessierst, dann ist die Stadtführerei ein Traumberuf. Oder man wird Journalist. Auch eine Option.

Das Buch ist heute erschienen und kostet 24 Euro.  Cover: Kneipp
Das Buch ist heute erschienen und kostet 24 Euro. Cover: Kneipp © Kneipp

"Wir sehen uns eher als Stadtverführer"

Was hat Sie denn aus Ihrem früheren Job genau getrieben?
SD: Es ist nicht so, dass ich meine Arbeit nicht mochte. Mir fehlte nur etwas, draußen zu sein, Menschen zu begegnen.
TR: Bei mir genauso. Weg vom Computer war mir wichtig, nach 20 Jahren. Ich mochte meinen Job – und übe ihn ja weiter aus, innerhalb unserer Agentur. Genauso ist ja Synthia weiterhin unsere Marketingchefin.

Verstehe. Dann sind Sie gar keine Berufsausbrecher.
TR: Schönes Wort. Aber nicht direkt, nein. Wir sehen uns eher als Stadtverführer, wollen andere dazu verführen, sich München genauer anzusehen, viel mehr über den Ort zu erfahren, an dem man lebt.

Und wenn von Anfang an ein Grafikdesigner und eine Marketingexpertin bei so einer Gründung dabei sind, spart man sich mindestens drei Mitarbeiter.
TR: Eher fünf bis sechs (lacht).
SD: Völlig klar. Das war schon wichtig, um das alles zu zweit stemmen zu können. Da haben unsere Kenntnisse und unsere Ausbildung sehr geholfen.
TR: Aber wir haben schon oft unsere 50- bis 60-Stunden-Wochen. Das muss man dazusagen.

Inzwischen läuft es ja wieder, weil Corona derzeit kein Thema mehr ist. Dann stellen Sie bestimmt bald Mitarbeiter ein, oder?
TR: Wir sind schon so weit, dass eine Hand voll Guides für Ludwig und Lola arbeiten.

"Nicht jede Tour ist exakt 10.000 Schritte lang"

Überschneiden sich die 15 Touren im Buch eigentlich mit den Rundgängen, die Sie bei Ludwig und Lola anbieten?
SD: Nur zum kleinen Teil.

Woran liegt das?
SD: Eine Route im Buch führt zum Perlacher Forst. Bei geführten Touren funktioniert das nicht. Sie beginnen in der Stadt. So weit gehen wir nicht, weil wir ja wieder in der Stadt ankommen wollen. Die stadtgeschichtliche Tour wiederum überschneidet sich schon sehr stark mit unseren verkauften Routen. Auch die Olympische.
TR: Es sind etwa zwei bis drei Touren, die sich mit den Angeboten von Ludwig und Lola stark überschneiden. Aber den Großteil haben wir extra für das Buch entworfen.

Wie sind die 10.000-Schritte-Routen entstanden?
TR: Wir haben überlegt, worauf wir Lust hätten, wie viele Kilometer überhaupt 10.000 Schritte sind. Und dann kreisten wir Flächen auf der Karte ein, in allen Himmelsrichtungen, dort, wo man normal nicht hinkommt. Oder sind Sie schon mal in Allach spazieren gegangen?

Verstehe.
SD: Wissen sollte man, dass natürlich nicht jede Tour exakt 10.000 Schritte lang ist. Das ist nur ein ungefährer Wert, der auch sehr von der individuellen Schrittlänge abhängt.

Wie lange dauern die 15 Touren aus dem Buch je im Schnitt?
SD: Wenn Sie richtig flott sind, dann etwa anderthalb Stunden. Ohne Pause. Das sind dann bis zu sieben Kilometer, je nach Route. Aber wenn Sie immer wieder stehenbleiben, einkehren, Pausen machen, dann kann das auch bis zu drei Stunden dauern.
TR: Am Ende sind es immer sechs bis acht Kilometer.

Stadtführung durch München als neue Inspiration

Aus wie vielen Touren haben Sie am Ende ausgewählt?
TR: In etwa 40 waren es.
SD: Also ein zweiter Band vom Buch wäre kein Problem.
TR: Wichtig war uns, den Leuten neue Inspiration zu geben, einen neuen Horizont anzubieten, und autofrei zu bleiben. Wir wollten, dass wir alle Touren mit den Öffentlichen erreichen.

Welche Touren aus dem Buch sind Ihre Favoriten?
SD: Das Schöne ist, je nach Stimmung findet man die passende Tour. Wenn ich die Nase voll habe von der Innenstadt, dann nimmt man sich eine einsame. Wenn ich was von der Stadt sehen möchte, die urbane Tour. Meine persönlichen Favoriten: "Die Olympische" und "Die Stadtgeschichtliche".
TR: Am interessantesten fand ich zwei: "Die Geplante" rund um die Messestadt Riem. Da kann man erleben, wie sich moderne architektonische Konzepte bewähren können – oder auch nicht. Wer mit Freunden unterwegs ist und Zeit hat: unbedingt "Die Lustwandelnde", längs durch den Englischen Garten. Ganz viel München, ganz viel Erholung, ganz viele Biergärten, weg von den bekannten Pfaden, oft auf Schleichwegen.

Welche Runde gehe ich eigentlich bei schlechtem Wetter?
SD: Auf jeden Fall "Die Stadtgeschichtliche". Da kann man sich ganz viel unterstellen. Aber ich bemühe mal das Stadtführer-Mantra: Es gibt kein schlechtes Wetter, zieh dich gscheid an!
TR: Und ein wenig Proviant schadet auch nie. Mit der richtigen Kleidung lässt sich auch durch den Perlacher Forst wandern. Im Buch heißt sie "Die Einsame".

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