100 Jahre GWG München: Das sind die Geschichten der Mieter
München - Die GWG München wird 1918 als Gemeinnützige Wohnstättengesellschaft gegründet und ist damit die älteste der vier Wohnungsgesellschaften, an denen die Landeshauptstadt beteiligt ist. Zweck der Gesellschaft ist zunächst weniger das Bauen, sondern eher Bauberatung und -betreuung.
1936 ändert sich das: Mit der Maikäfersiedlung in Berg am Laim schafft die GWG einfachen und kostengünstigen Wohnraum – keine Miete darf 20 Prozent des Bruttoeinkommens übersteigen, bekommt Planer Guido Habers als Auftrag. Habers ist der Schwager des damaligen Wirtschaftsministers Hermann Esser, eines Mitbegründers der NSDAP.
Es ist das erste Bauprojekt der GWG in Eigenregie. Bis 1939 entstehen 800 Miet- und 190 Eigentumswohnungen, vier kleine Geschäfte und ein Restaurant – die Echardinger Einkehr.

Kindheit und Jugend in der Maikäfersiedlung: Erst mit 22 Jahren zog Roland Hölzle aus der Familienwohnung aus. Foto: privat
Maikäfersiedlung: "Die Leute blieben hier wegen der Gärten"
Wohnzimmer, Küche, Kammer, Flur, Toilette – auf 36 Quadratmetern: So sahen sie aus, die Volkswohnungen in der Maikäfersiedlung. Roland Hölzle wuchs in einer von ihnen auf.
Schlimm, sagt Roland Hölzle, schlimm ist das. Diese Flachdächer auf diesen Neubauten. Und er schüttelt seinen grauhaarigen Kopf mit Nachdruck und schaut in alle Himmelsrichtungen, die schlimmen Flachdächer sind inzwischen fast überall in der Maikäfersiedlung.
Roland Hölzle, 73 Jahre, ist in der alten Maikäfersiedlung aufgewachsen, als die noch eine neue Siedlung war. Als die Dächer noch spitzwinkliger waren als ein Geodreieck und die Vorgärten der Häuser doppelt so groß wie die Wohnungen darin.
Die sogenannten Volkswohnungen wurden damals – das erinnert relativ leicht an heutige Umstände von neuen Bauprojekten – schnell in einer Fertigbauweise hochgezogen, damit kurzfristig viel Platz entsteht für die vielen Menschen im wachsenden München. Auch für die mit etwas weniger Einkommen. Die Siedlung in Berg am Laim ist das erste große Projekt der GWG, das sie in Eigenregie realisiert.

Hölzle heute an derselben Stelle – das spitzdachige Haus im Hintergrund ist als einziges geblieben. Foto: Daniel von Loeper
Jedes Haus hat einen Obstbaum. Bei Hölzles ist es eine Kirsche
Hölzles Eltern, beide gebürtige Neuhauser, bekommen 1937 eine der neuen Wohnungen, in der Krumbadstraße 8. Recht wahrscheinlich, sagt Hölzle, wurden sie bei der Wohnungsvergabe bevorzugt, weil der Vater – seit 1933 in der Sturmabteilung (SA) dienend – kurz vorher auch in die NSDAP eingetreten war.
Ulrich Hölzle ist gelernter Drogist, verliert aber in der Wirtschaftskrise seine Arbeit. Im Braunen Haus – der NSDAP-Parteizentrale – arbeitet er dann in der Druckerei und verdient den Unterhalt für die Familie. "350 Reichsmark", erzählt Roland Hölzl, "davon 29 für die Miete. Unvorstellbar!"
Allerdings sind auch die Dimensionen der Wohnung unvorstellbar: Knappe 36 Quadratmeter hat die Familie zur Verfügung – verteilt auf ein Wohnzimmer, eine Wohnküche und eine Kammer, mit winzigem Flur. Es gibt ein Bad mit Toilette aber keine Wanne; gewaschen wird sich an einem Waschbecken in der Küche. Zwischenzeitlich drängen sich hier die Eltern mit fünf Kindern.
"Aber wir hatten ja den Garten", sagt Hölzle. 60 Quadratmeter ist der groß, "von den Nazis gedacht zur Selbstversorgung", sagt Hölzle. "Einen Obstbaum hatte jeder. Bei uns war's eine Kirsche."

Roland Hölzle (r.) als kleiner Bub vor der Hausnummer 8 der Krumbadstraße mit einer Freundin. Foto: privat
In den 90ern wird der Abriss der alten Häuser beschlossen
Die Mutter – unterstützt von der Familie – schuftet, um die fünf Söhne durchzubringen. Denn kurz nach der Geburt von Roland Hölzle wird der Vater im April 1945 noch einmal zum Einsatz gerufen, muss ausrücken in die Nähe von Heilbronn – und wird angeschossen. Er erliegt seinen Verletzungen.
1967 ist Roland Hölzle der letzte Sohn, der auszieht – und die Mutter zum ersten Mal allein wohnen lässt. Hölzle ist Vater geworden, zieht mit seiner ersten Frau ins Wohnheim ihres Arbeitgebers Lodenfrey – die Wohnungsnot ist auch zu dieser Zeit groß.
Sie haben bei der Suche Dringlichkeitsstufe 1s, die höchste. Das – und wohl auch, dass die Tante im Wohnungsamt arbeitet – hilft schließlich: Sie bekommen eine Wohnung in Unterhaching, in einer Siedlung der Gewofag. Hölzle lebt noch heute dort.
"ie Leute, die länger in der Maikäfersiedlung wohnen geblieben sind", sagt er und zeigt im Viertellokal Echardinger Einkehr – seit einigen Jahren wieder geöffnet – lächelnd auf ein paar grauhaarige Herrschaften am Nebentisch, vor denen ihre Vormittagsbiere stehen, "sind das sicher nicht, weil die Wohnungen so schön und groß waren. Sondern wegen der Gärten. Und weil sie es sich woanders nicht leisten können."
Als die GWG 1985 die Siedlung abreißen will, formiert sich die Mietergemeinschaft sofort. "Die Proteste habe ich nicht mehr mitgemacht, aber das natürlich mitbekommen", erzählt Hölzl. Bis in die 90er zieht sich der Streit – dann wird der Abriss beschlossen.

Familie Hölzle (mit einer Tante, M.) am Silvesterabend 1940 in ihrem Wohnzimmer – auf dem Tisch die obligatorische Hitlerbüste, dekoriert mit vier Kerzen. Foto: privat
Die Echardinger Einkehr steht noch – und ein paar wenige Häuser
Zum Abriss fährt Hölzle in die Siedlung, "freilich!", sagt er. "Tagelang habe ich mir das angeschaut, wie der Bagger da nei ist." Alle anderen aus dem Viertel, sagt er, sind auch da. Es wird ein großes Wiedersehen – und ein großer Abschied.
Nur noch die Echardinger Einkehr steht, die kleine Ladenzeile daneben – früher die Zentrale der GWG –, außerdem eine Reihe der alten Häuser, die in Privatbesitz sind. Bekannten von Hölzle gehört eines davon; sie bieten es ihm und seiner Frau in den 90ern zur Miete an. "Wir haben es uns angeschaut", sagt Hölzle, "und dann abgelehnt. Wenn man älter wird, sind das dann zu viele Treppen."
Aber der Garten, sagt er versonnen. Dieser Garten.

Christa Meier mit "Tante Gerti", "Opa Theo" und der "Brotzeller-Oma" (v. l.) vorm Gartenhäuschen, das obligatorisch zur Wohnung gehörte. Foto: privat
Harthof: "Jeder war für jeden da"
Ferien in Giesing waren wie Urlaub in Amerika: Christa Meier ist im Viertel am Harthof aufgewachsen.
Sie kramt, sie blättert, sie sucht. Dann gibt Christa Meier auf. "Von unserem alten Haus finde ich kein Bild", sagt sie und zieht die Nase kraus. "Die sahen aber eh alle gleich aus." Und dann lacht sie, offen und ohne Bosheit, wie nur jemand lachen kann, der sich mit den Zuständen lange auseinandergesetzt und seinen Frieden damit gemacht hat.
Christa Meier, 72 Jahre alt, hat es nicht leicht gehabt im Leben. Sie hat trotzdem immer gelacht, sagt sie – und auf gewisse Weise hat es sie dahin gebracht, wo sie jetzt ist: in die gemütliche Zwei-Zimmer-Wohnung, in der sie mit ihrem Mann Waldemar lebt. Einer Wohnung am Harthof, wo sich ihr ganzes Leben abgespielt hat.
Meier ist das Kind einer Deutschen und eines US-Soldaten. Den Vater lernt sie nie kennen, die Mutter kümmert sich, vorsichtig formuliert: wenig.
Als Baby liegt sie oft den ganzen Tag unbeaufsichtigt in einem Korb auf dem Balkon, neben sich eine Flasche Wasser. Der Balkon gehört der Tante, bei der Mutter und Kind leben – die sitzt aber selbst im Rollstuhl. "Immer wieder haben mich die Kinder von Nachbarn mitgenommen", erzählt Meier, "ich habe immer wieder für zwei Tage, drei Tage, mal für eine Woche bei fremden Familien gelebt."

Christa Meier vor ihrem heutigen Wohnblock in der Humannstraße. Foto: Daniel von Loeper
Der Weyprechthof ist ein zentraler Punkt in ihrem Leben
Als sie der Mutter weggenommen wird, ist sie elf Monate alt und wiegt sieben Pfund. Eine Pflegemutter nimmt sie auf, obwohl schon vier Kinder bei ihr und ihrem Mann leben. "Sie hat mir immer erzählt, ich hätte sie und ihren Mann so oft angelacht, da hätten sie nicht ablehnen können."
Mit der "Brotzeller-Oma", wie sie die schon etwas ältere Frau nennt, und deren Mann Theo leben sie in der Dientzenhoferstraße am Harthof. Eine Drei-Zimmer-Wohnung nennt es Meier: Kinderzimmer, Schlafzimmer, eine Küche. "Da so schräg rüber san unsre Blöcke gewesen", sagt sie und zeigt aus dem Wohnzimmerfenster im Erdgeschoss gen Horizont.
Ihr Pflegebruder "Onkel Max" zieht irgendwann mit seiner Frau Gerti nach Giesing – in der Vorstellung der kleinen Christa eine Weltreise entfernt. "In den Ferien habe ich sie besucht, das kam mir dann vor wie ein Urlaub in Amerika."
Christa Meier bleibt. Ihr Leben findet am Harthof statt, das Wirtshaus Weyprechthof ist einer der zentralen Punkte. Die Brotzeller-Oma ist Bedienung dort, mit Opa Theo geht Christa Meier in den Ferien zum Frühstücken hin und fühlt sich sehr erwachsen. Bis der Hof im vorigen Jahr schloss, hat sie dort mit ihrer Theatergruppe gespielt, "und geheiratet haben mein Mann und ich da auch!"
Zumindest gefeiert, nach der Trauung in der Kirche eine Querstraße entfernt. Meiers ehemalige Klassenlehrerin kommt – und bringt ihre ganze Schulklasse mit. "Sie wusste nicht, wo sie sie hintun soll in der Zeit", sagt Meier vergnügt. "Das war einfach eine schöne Zeit und ein schönes Viertel. Jeder war für jeden da."
Die kleine Familie Meier mit Sohn Stephan wohnt in der Dientzenhoferstraße anfangs mit der Brotzeller-Oma, die den Buben betreut, während die Eltern arbeiten; nach deren Tod zu dritt, schließlich zu zweit. Bis zum Abriss 2015. "Die GWG hat uns eine Wohnung mit drei Zimmern angeboten", erzählt Christa Meier, "aber ich hab denen gesagt: Geben Sie die einer Familie mit Kindern, wir brauchen nur zwei Zimmer."
Und jetzt passt alles? Christa Meier nickt. "Mir gefällt's hier. Mein Mann findet den Flur zu groß." Sie lacht leise. "Er wird sich schon dran gewöhnen."

Mit "Onkel Max" beim Federballspiel an der Dientzenhoferstraße. Foto: privat
Hinterbärenbadstraße: "Wieso sollten wir weggehen?"
56 seiner 57 Lebensjahre lebt Roland Wanderwitz schon in derselben Wohnung in Sendling.
Der würzig duftende Nadelbaum im Hinterhof vorm Balkon – gute 15 Meter hoch –, der nimmt der Wohnung inzwischen ein bisschen das Licht, erzählt Roland Wanderwitz. Aber irgendwie gehört er zur Wohnung halt dazu: Vor erweißschonnichtmehrwievielen Jahren haben die Nachbarn aus der Wohnung obendrüber ihren Christbaum nach dem Fest in den Hinterhof umgepflanzt.
Nun steht er da eben und wächst und reicht mit seinen Wurzeln immer tiefer in den Sendlinger Boden. Ein bisschen wie Roland Wanderwitz selbst.
Von den 57 Jahren, die er bereits lebt, hat er 56 in dieser Wohnung in der Hinterbärenbadstraße verbracht. Seine Familie zog 1964 aus Gröbenzell in den Neubau im Erdgeschoss. Inzwischen sind er und seine Frau Hauptmieter, ihre Kinder studieren in München und Augsburg.
Seine Kindheit und Jugend verbrachte Wanderwitz in einem Viertel, das ungleich roher und wilder war als das heute: "Wo jetzt der Westpark ist, war früher eine Schafweide, auf der wir Fußball gespielt haben." Auch die Häuser waren noch nicht so hoch, die Hinterhöfe der Anlage nicht so zugebaut.

Roland Wanderwitz auf dem Balkon seines Lebens. Foto: Daniel von Loeper
"Die Nazi-Rentner haben gemeckert, dass wir nicht so laut spielen sollen"
Es gibt ein Bild von Roland Wanderwitz, das ihn als Jungen auf dem Spielplatz vor dem Balkon zeigt – freilich sah der Spielplatz damals noch ganz anders aus als heute mit seinen abgerundeten, pädagogisch wertvollen Holztürmen. Das Bild ziert die erste Mieterzeitung der GWG. "Damals haben die alten Nazi-Rentner von gegenüber immer gemeckert, dass wir nicht so laut spielen sollen", sagt Wanderwitz.
Die meisten seiner Freunde von früher sind auch seine Freunde von heute, "die wohnen fast alle noch hier", sagt er. Man trifft sich immer wieder, geplant und zufällig. Der Friseur um die Ecke, zu dem er immer geht, ist auch im Viertel aufgewachsen, hat beim BSC Sendling Fußball gespielt.
Wie auch Peter Grünberger, der es 1982 immerhin zum FC Bayern schaffte – "aber dann hat er mal mit uns im 'Peaches' getrunken und ist danach beim Autofahren erwischt worden", erzählt Wanderwitz. "Da wurde er gefeuert."
Wer hier lebt, der bleibt. Wegen der relativ günstigen Mieten – zumindest in den alten Verträgen. "Die GWG erhöht auch alle drei Jahre um die 17 Prozent, die sie darf", sagt Wanderwitz.
Wie seine Familie ist auch die Nachbarin Erstbezieherin gewesen, ebenso die Frau in der Wohnung darüber. Obwohl deren Kinder nicht mehr hier leben, wohnen sie weiterhin im Haus. "Die Finanzen", sagt Wanderwitz. "In kleinere Wohnungen zu ziehen, wäre für sie jetzt viel teurer."
Aber sie bleiben auch aus weniger greifbaren Gründen: "Wieso sollten sie weggehen?", fragt Wanderwitz. "Hier gibt es ja alles." Er habe auch hin und wieder mal darüber nachgedacht, ob er woanders wohnen möchte – aber sich immer dagegen entschieden. Ein anderes Münchner Viertel komme für ihn einfach nicht in Frage.
Und eine andere Stadt? "Wohnen kann man sicher woanders", sagt er, "aber leben halt ned."
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