100. Geburtstag von Sophie Scholl: "In München brodelt es"
Als am 1. September 1939 der Krieg ausbricht und der angehende Offizier Fritz Hartnagel "zu den Waffen" gerufen wird, schreibt ihm Sophie: "Ich kann es nicht begreifen, dass nun dauernd Menschen in Lebensgefahr gebracht werden von anderen Menschen...sag nicht, es ist fürs Vaterland."
Sophie Scholl über Reichsarbeitsdienst: "Wir leben wie Gefangene"
Sie selbst muss dem Vaterland, nach Abitur und Schulung zur Fröbel-Kindergärtnerin, ein halbes Jahr als "Arbeitsmaid" dienen, anschließend noch ein halbes Jahr Kriegshilfsdienst leisten. Über den Reichsarbeitsdienst (der RAD war für die männliche Jugend als Vorstufe zum Militärdienst verpflichtend) berichtet sie: "Wir leben wie Gefangene."
Danach aber beginnt für sie ein neuer Lebensabschnitt: Sophie darf in München studieren, wie ihr Bruder Hans. Er ist bereits als Medizinstudent in der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) eingeschrieben. Die soll der Rektor, der SS-Professor Walther Wüst, zur Hochburg für den akademischen Nazi-Nachwuchs ausbauen.
Sophie Scholl: Zur Untermiete in der Mandlstraße 28
Sophie, wie sie ihren Vornamen erst seit 1940 schreibt, hat sich für Philosophie und Biologie entschieden. "Meine Seele hat Hunger," bekennt sie, neuerdings im Tagebuch.

Am 9. Mai 1942, als sie volljährig wird, holt Hans Scholl seine Schwester am Münchner Hauptbahnhof ab. Er quartiert sie zur Untermiete in der Mandlstraße 28 ein. Bald macht er sie mit seinen engsten Freunden bekannt. Keiner ist älter als 25. Da sind der Deutsch-Russe Alexander Schmorell, der die Bildhauerei und die Balalaika beherrscht, der für moderne Malerei schwärmende Murnauer Christoph Probst und der Bonner Willi Graf, der später die Unterkunft in der vornehmen Mandlstraße übernehmen wird. Man unterhält sich über Kunst und Literatur, geht zusammen in Konzerte, fährt mit Bahn oder Fahrrad zum Wandern und im Winter zum Skilauf.
Stadelheim 1942: Sozialdemokraten Wager und Frieb werden geköpft
Anfang 1942 geben amtliche Bekanntmachungen auf roten Plakaten (auch wir in Uni-Nähe einquartiere Internatsschüler sehen sie) erschreckende Hinweise auf eine Terrorwelle, die über die "Hauptstadt der Bewegung" rollt.
In Stadelheim geköpft werden die jungen Sozialdemokraten Bebo Wager und Hermann Frieb (dessen Mutter muss die Hinrichtung bezahlen). Verhaftet werden 24 Mitglieder einer kommunistischen Gruppe (deren Anführer Wilhelm Olschewski noch vor dem Prozess im Gefängnis ermordet wird).
"Blutrichter" Roland Freisler in München
Die Urteile fällt ein nach München gereister "Volksgerichtshof". Dessen Präsident heißt neuerdings Roland Freisler, er gilt bei Juristen als "Blutrichter".
In Schwabing und in der Maxvorstadt führt der Freundeskreis tiefschürfende, religiös und weltanschaulich motivierte Diskussionen mit Künstlern und Intellektuellen. Im Kern geht es um die Frage, wie sich der Staatsbürger in einer Diktatur verhalten soll.
Woher stammt die Bezeichnung "Weiße Rose"?
Ist Tyrannenmord, also ein Attentat auf Hitler, erlaubt? Was heißt Widerstand? Besonders vertrauen die jungen Bildungsbürger dem katholischen Publizisten Carl Muth und dem Philosophen Theodor Haecker sowie einem der Professoren, dem Volksliedforscher Kurt Huber, der aus seiner anti-faschistischen Gesinnung kein Hehl macht, indessen Kardinal Faulhaber aber predigt: "Wir bleiben deutsch, opferbereit und national gesinnt…"
Bei einem der Gespräche oder Leseabende im Sommer 1942 beschließt der engste Freundeskreis, zum aktiven Widerstand überzugehen. Einen Namen hat man auch schon: "Weiße Rose".
Die Herkunft des Namens haben die Forscher bis heute nicht eindeutig geklärt. Zwar wird Hans Scholl, der Wortführer, später beim Verhör behaupten, er habe den Namen "willkürlich gewählt". Aber Schwester Inge verweist später auf einen frühen Brief von ihm, wonach er stets die Knospe einer Rose in der Brusttasche trage. Auch der Roman "Die weiße Rose" von B. Traven wird als mögliche Anregung genannt.
Flugblatt: "Wir sind euer schlechtes Gewissen!"
Schnell treibt die Weiße Rose Blüten, gewinnt Anhänger im Raum München. Von konkret geplanten Widerstandshandlungen erfahren jedoch nur wenige der Sympathisanten. Einer ist der Architekt Manfred Eickemeyer, der in Polen arbeitet und von Judenmorden berichtet. Er gibt Hans den Schlüssel für sein (nicht mehr existentes) Atelier im Hinterhof der Leopoldstraße 38a.
Ende Juni und im Juli 1942 tippen und hektographieren Hans Scholl und Alexander Schmorell im Mai 1942 ihr erstes Flugblatt im Elternhaus Schmorells. Am Anfang steht da: "Nichts ist eines Kulturvolkes unwürdiger, als sich ohne Widerstand von einer verantwortungslosen und dunklen Trieben ergebenen Herrscherclique 'regieren' zu lassen." Den Aufruf untermauern Zitate von Schiller, Goethe, Aristoteles - und Jesus. Der Text endet mit der Bitte, "dieses Blatt mit möglichst vielen Durchschlägen abzuschreiben und weiter zu verteilen!".
Das Mädchen war bewusst nicht an der hochriskanten illegalen Arbeit beteiligt. Christoph auch nicht, denn der muss drei Kinder versorgen. Erst das Flugblatt mit dem römischen IV wird Sophie im Juni während einer Vorlesung bei Professor Huber von der eingeweihten Kommilitonin Traute Lafrenz zugesteckt. Schlusssatz: "Wir sind euer schlechtes Gewissen!"

Die gigantischen Pläne zum Ausbau Münchens im NS-Stil werden eingestellt
In den Semesterferien - der Bombenkrieg hat begonnen, die gigantischen Pläne zum Ausbau Münchens im NS-Stil werden eingestellt - muss Sophie Scholl noch einmal nach Ulm, um in einer Schraubenfabrik zwei Monate für die Rüstung zu arbeiten. In dieser Zeit wird der Vater zu vier Monaten Gefängnis verurteilt. Er hat den Führer als "Geißel Gottes" bezeichnet. Sophie spielt vor seiner Zelle die Melodie von "Die Gedanken sind frei" - auf der Blockflöte.
Ende Juli werden Hans und seine Fakultätskollegen als Angehörige einer Sanitätskompanie nach Russland abkommandiert. Sophie verabschiedet sie am Münchner Ostbahnhof. Jürgen Wittgenstein schießt am schmiedeeisernen Zaun in der Orleansstraße noch Erinnerungsfotos - sie werden weltbekannte Klassiker der Ikonographie.
Weiße Rose: "Wir lassen Euch keine Ruhe!"
Im November ist Hans wieder in München. Sophie heißt ihn mit einer weißen Blume willkommen. Sie beziehen zwei Zimmer in der Franz-Josef-Straße 13. Der 25-jährige Leutnant Fritz Hartnagel muss "in Richtung Stalingrad" abmarschieren.
Unermüdlich, mit wachsender Entschlossenheit, verfassen Hans und Alex weitere Flugblätter mit immer radikaleren Tönen. Die Sprache wird verständlicher, denn Sophie geht es darum, "auf die breite Masse des Volkes einzuwirken", sie sagen nun: "Wir lassen Euch keine Ruhe!"
Sie kurbeln nachts das Vervielfältigungsgerät, drucken anfangs je hundert Stück, später mehr. Sie werfen die ordentlich frankierten, meist an Professoren, Autoren und Buchhändler adressierten Briefe heimlich in unterschiedliche Briefkästen. In insgesamt 16 deutschen Städten tauchen Flugblätter auf.
Sophie Scholl legt Flugblätter in Telefonzellen und auf Autos
Sophie will jetzt unbedingt bei Produktion und Verteilung mitmachen. Sie besorgt Geld von Fritz, den sie später ihren Verlobten nennen wird. Sie kauft Papier, Umschläge, Matrizen, Briefmarken. Um nicht aufzufallen, wechselt sie die Geschäfte. Sie legt die Flugblätter in Telefonzellen und auf Autos. 2.400 Stück bringt sie im Rucksack per Bahn nach Augsburg und Stuttgart. Eines gibt sie auch dem Vater in Ulm, der Berufsverbot hat. Um die Eltern nicht zu beunruhigen, behauptet sie, dass sie nicht aktiv mitmache. Sie weiß aber: "In München brodelt es."
Tatsächlich kommt es am 13. Januar 1943 bei einer Feier der Universität im Deutschen Museum zu einem Zwischenfall. Gauleiter Paul Giesler verhöhnt die Studentinnen. Sie sollten lieber "dem Führer ein Kind schenken, statt sich in Hörsälen herumzudrücken". Pfiffe, Füßescharren, Zurufe. Einige Studenten stürmen zum Podium, greifen den NS-Studentenführer an. Verwundete in Uniform unter Führung eines hochdekorierten Leutnants befreien festgehaltene Kommilitonen. Gestapo und SS beenden die tollkühne Rebellion. Am selben Tag ruft Hitler den Reichsverteidigungszustand aus.
Wird München zur Hauptstadt einer Gegenbewegung?
Hans Scholl, Alexander Schmorell und Willi Graf malen in drei Februarnächten Freiheitsparolen auf Hauswände. Schwester Elisabeth erinnert sich an Sophies Wort: "Die Nacht ist der Freien Freund." Mit Teerfarbe und Schablone geht man unter Todesgefahr ans Werk. So werden viele Münchner - wie auch der Verfasser dieser Serie - im Uni-Viertel und im Stadtzentrum im Winter des vierten Kriegsjahres ungewollt Augenzeuge einer unerhörten, mutigen Botschaft des Friedens.
"Der Krieg geht seinem sicheren Ende entgegen", verkündet das nächste Flugblatt. In dieser starken Erwartung nennt die Weiße Rose nun auch schon Grundsätze für ein neues, demokratisch, sozial, christlich, föderalistisch orientiertes Deutschland. Kontakte mit anderen Oppositionsgruppen sind angebahnt. Kuriere sollen Flugblätter in andere Städte und ins Ausland schaffen. Wird München etwa zur Hauptstadt einer Gegenbewegung?
Lesen Sie am Dienstag in der AZ: Tapfer bis zum Tod