Wandern zu Wundern

Auf dem "Camino Francés" ist das Ziel der Weg – aber bis Santiago di Compostela gibt es so manches zum Staunen. Und 2010 ist Heiliges Jahr!
von  Abendzeitung
Pilger auf dem Jakobsweg, Foto: Merk
Pilger auf dem Jakobsweg, Foto: Merk © srt

Santiago - Auf dem "Camino Francés" ist das Ziel der Weg – aber bis Santiago di Compostela gibt es so manches zum Staunen. Und 2010 ist Heiliges Jahr!

Erstaunlich, was diese Menschen alles auf sich nehmen. Einen ganzen Monat sind die Pilger unterwegs, in 31 Etappen. 800 Kilometer weit folgen sie dem Camino Francés durch Spaniens Norden. Von den Pyrenäen bis Santiago de Compostela – ein einziger Schlauch. Auch heute Morgen sind sie wieder da . . .

Acht Uhr früh, und es ist noch Nacht. Vom schwarzen Himmel nieselt feiner Regen auf unförmige Gestalten. Bepackt bis über die bunten Kapuzen, streben die ersten über den Rio Bernesga. Die Studenten auf der Brücke schützen ihre Bücher unter Regenschirmen, haben keinen Blick für den Gegenverkehr. Pilger? Die kreuzen hier seit 800 Jahren.

In Leon wogt das pralle Leben

Gestern Abend war das Wandervolk aus aller Welt noch staunend durch Leon gezogen. Zwischen der romanischen Basilika des Heiligen Isidor mit der königlichen Grabkammer und der gotischen Kathedrale mit ihren zauberhaften Glasfenstern wogte das pralle Leben. Ein mittelalterlicher Markt mit Gauklern, Spießbratern und Seifensiedern brodelte bis hinunter zum Rathaus. Eine Welt voller Wunder, und nun auch dieses . . .

Bei der Virgen del Camino klart es auf. Die Kirchenheilige, so die Fama, soll einen Sklaven aus algerischer Gefangenschaft heim ins katholische Reich geholt haben. Und zwar samt der Kiste, in der er gefangen war, und samt seinem heidnischen Herrn. Gesprächsstoff genug für den folgenden Weg durch die kahle, abgeerntete Ebene.

Ziegen meckern uns nach

Es hat wieder mal genieselt. Champana cotidiana nennt man das hier – Schampus des Alltags. Unter der Römermauer von Astorga trocknet ein Pilgrim seine Klamotten auf den Büschen. Später wird er hinaufsteigen zur wuchtigen Kathedrale und gleich daneben den granitgrauen Bischofspalast bestaunen – ein Werk Antoni Gaudis in türmchenbewehrter Neugotik. Es duftet nach Kakao. Jeder zweite Laden bietet hier Schokolade an – hausgemacht mit ganzen Mandeln.

Doch dann wird’s richtig wild: In Foncebadón empfangen uns nur noch ein paar mit rostigem Blech gedeckte Hütten. Ziegen meckern uns nach, während wir zum über 1500 Meter hoch gelegenen Cruz de Ferro aufsteigen. Das Eisenkreuz steht auf einem gewaltigen Steinhaufen. Büßer haben ihn mit ihrer symbolischen Seelenlast angehäuft – mit Steinen aus der Heimat. Irgendwo unter dem Geröll liegt auch der Lapislazuli des Komikers Hape Kerkeling (laut seinem Bestseller „Ich bin dann mal weg“). Beim Abstieg zur alten Bogenbrücke von Molinaseca streuen gewaltige Kastanien ihre Igelfrüchte auf den Pfad. Glänzende Maroni platzen heraus.

Wieder ein Wunder

In Ponferrada schrie plötzlich eine Eiche, die für den Kirchenbau gefällt werden sollte. Es war das Jesuskind, das man im Baum vor den brandschatzenden Mauren versteckt hatte. Jene Holzfäller waren die Tempelritter. Ihre hollywoodreife Burg mit Türmen und Fahnen mahnt düster an das Schicksal der einstigen Burgherren. Alle wurden grausam zu Tode gefoltert. Mit Duldung des Papstes – da half auch kein Wunder.

Wundersamer Wandel nun: Der Camino schwingt sich durch Rebenhügel. Villafranca mit seiner Heiligen Pforte erscheint Hape Kerkeling auf seiner Tour wie "an der Mosel geklaut". Doch gleich vergeht ihm das Lachen. „Starr vor Schreck“ quält er sich, von Lastwagen bedrängt, durch die Schlucht des Valcarce. Dann erneut Heimatgefühle: Wasser sprudeln unter gelbem Laub– wie im Bayerischen Wald. Auf gepflasterten Steigen a la Südtirol knirschen Nüsse unter den Stiefeln. Dann geht’s durch Ginster und brusthohen Farn hinauf zum windigen O Cebreiro (1306 m). Ein silberner Kelch erinnert im Keltendorf an ein besonderes Mirakel: Wein wurde zu Blut! – sagt der Glaube.

Wandern durch einen Eukalyptus-Wald

In Portomarin radeln Pilger über den Mino. Das niedrige Stauwasser hat die Grundmauern des Urdorfes freigelegt. Der Ort ist nach oben geklettert und hat die wuchtige Wehrkirche Stein für Stein mitgenommen. Abseits vom Weg in Villar de Donas dämmert die Grablege der Templer mit ihren zarten Wandgemälden vor sich hin. Spätestens in Melide findet man seine Weggenossen wieder – in der Pulperia, wo an groben Tischen auf Holztellern der Pulpo gallego serviert wird. Das ist gekochter Tintenfisch, nur mit grobem Salz, etwas Pimento und Olivenöl. Himmlisch!

Es duftet nach Eukalyptus. Ein dichter Wald will durchwandert sein. Die Höfe am Weg haben typische Getreidespeicher auf Stelzbeinen: Kreuz obendrauf – die Kelten hatten noch Phallussymbole. Den letzten Café solo gibt’s in einer Kneipe, deren Decke voller Baseballcaps hängt. Ja, es ist nun Zeit, sich von alten Hüten zu lösen.

Am Ziel wird gefeiert

Denn da steht der Pilgersmann unversehens auf dem Monte do Gozo, dem Berg der Freude, und blickt auf die Heilige Stadt. Dunkel ragen die spitzen Türme der Kathedrale über die Dächer von Santiago de Compostela. Eine knappe Stunde, und die engen Gassen schlucken den Rucksackträger. Eine Mandoline klimpert, ein Dudelsack fiept, der Rest ist Ritual: Hinauf die enge Treppe hinterm Altar! Die Goldbüste des Heiligen Jakob umarmt! Den Weihrauch geschnuppert! Und – je nach geistiger Façon – ein Dankeschön für die Neugeburt.

Denn das ist das eigentliche Wunder, das nun in den Bars und Bodegas gefeiert wird. Mit dem grünen Weißen der Rias Baixas, mit Tellern meerfrischer Mariscos, mit galizischem Rinderfilet, mit Brüstchenkäse und mit Quittengelee. Es ist das Wunder einer Selbstfindung mit Kilometerpauschale! Wer wenigstens die letzten 100 km gewandert, oder das Doppelte geradelt ist, kriegt die Compostela, die Urkunde in Latein. Und nur er selbst weiß wofür.

Gerhard Merk

Die Heilige Pforte geht auf

2010 ist Heiliges Jahr in Santiago de Compostela. Das nächste folgt erst wieder in elf Jahren. In der Kathedrale öffnet sich noch am Abend des 31. Dezember 2009 die Heilige Pforte. Bei allen Messen wird dann der Botafumeiro durchs ganze Querschiff geschwenkt, der riesige Weihrauchkessel. Ideale Pilgermonate sind Mai und September.

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