Stressfreie Zeit
Herr Hecht, warum klaffen gerade beim Thema Reisen Wunsch und Wirklichkeit oft so weit auseinander?
Weil viele nicht wissen, wie Urlaub eigentlich geht. Die Tourismusbranche liefert unglaubliche Kulissen, aber eben nicht das Urlaubsglück. Zudem sind wir alle ziemlich erschöpft - nicht körperlich wie ein Bauer vor 100 Jahren, sondern mental und nervlich. Wir leben in stressigen Zeiten. Gleichzeitig wächst der Wunsch, im Urlaub endlich zur Ruhe zu kommen und sich selbst zu finden - aber das ist gar nicht so einfach.
Viele Leute arbeiten hart, um sich Urlaub leisten zu können. Darf man nicht verlangen, dass alles passt?
Sie dürfen das auf jeden Fall verlangen. Ich bewundere jeden, der mit seiner Zeit erfüllt umgehen kann. Nur haben die meisten von uns verlernt zu tun, was uns guttut. All die Leute, die mit der „Bild“-Zeitung am Strand liegen und sich ab 15.30 Uhr das erste Bier reinkübeln, sind der Beweis, dass wir mit Nichtstun überfordert sind.
Wie lernen wir wieder die Kunst des Nichtstuns - ohne uns zu langweilen?
Man muss sich der Langeweile aussetzen. Mit der Zeit erlebt man eine Leere, die nicht mehr anödet, sondern beruhigt und tatsächlich entspannt. Das geht nicht von heute auf morgen, aber nach ein paar Tagen merkt man, wie schön es sein kann, einfach nur auf einer Düne zu sitzen und aufs Meer zu blicken.
Muss man dafür nicht schon ein gelassener Mensch sein und nicht jemand, der hofft, im Urlaub Gelassenheit zu finden?
Müßiggang ist tätiges Nichtstun - hat der Autor Sebastian Haffner gesagt. Das kann man lernen. Man muss nur eine Tätigkeit finden, die einem guttut. Zum Beispiel lesen. Oder wandern. Einfach mal loslaufen und schauen, was als Nächstes um mich herum passiert. Im Auto spontan den Blinker setzen und irgendwohin fahren ohne Ziel.
Dieser Ratschlag taugt nur für Reiseziele, die man schon kennt. Wer zum vielleicht einzigen Mal im Leben an einem Ort ist, muss die Sehenswürdigkeiten besuchen und kann sich schwer treiben lassen. Muss man das?
Finde ich nicht. Im Gegenteil, an einem neuen Ort, den man noch nicht kennt, kann man doch noch viel besser neue Eindrücke auf sich einströmen lassen als in dem Ferienhaus in Meran, in das ich zum 20. Mal fahre. Das wäre schon wieder Routine, und Routine ist der Feind von Offenheit und Genuss. Vorgespurte Bahnen verhindern, dass man etwas Überraschendes erlebt. Und mit Sehenswürdigkeiten ist es ohnehin so eine Sache. Da gibt es dann Touristenmassen, weil alle dasselbe sehen wollen. Wo die Horde trottet, ist jeder Genuss dahin. Also ich möchte am Reiseziel gerne möglichst viel sehen, wovon ich vorher im Reiseführer gelesen habe. Das Abhaken von Plätzen, die man angeblich gesehen haben muss, bevor man stirbt, ist doch schrecklich. Ich suche mir die interessanten Orte selbst heraus und lasse sie mir nicht von irgendwem vorschreiben. Wenn Sie das Kolosseum wirklich interessiert, schauen Sie’s an. Aber gehen Sie nicht nur deshalb hin, weil Sie Angst haben, zu Hause danach gefragt zu werden.
Warum reisen wir überhaupt, wenn jeder Ortswechsel Gefahr bedeutet?
Die meisten Gefahren sind eingebildet. Manche Menschen lassen sich so einschüchtern, dass sie überhaupt nicht mehr losziehen. Oder sie nehmen ihr sicheres Schneckenhaus mit und fahren mit dem Wohnmobil und unzähligen Konserven los. Dann kann man theoretisch wochenlang Urlaub machen, ohne mit einem Einheimischen Kontakt zu haben. Nur, davon hat man nichts. Man bekommt nichts von dem Land mit.
Was tun bei Mängeln wie Kakerlaken oder grölenden Menschen im Hotel?
Da gibt es diesen berühmten Toilettenspruch: „Ändere, was du ändern kannst. Nimm hin, was du nicht ändern kannst und habe die Kraft, das eine vom anderen zu unterscheiden.“ Sich aufzuregen ist anstrengend und ändert doch nichts. Es sei denn, Sie brauchen es, um sich zu spüren oder Dampf abzulassen. Andererseits muss man sich auch nicht alles bieten lassen - wenn es eine Chance gibt, den Missstand abzustellen.
Man hätte sich vorab im Internet informieren können . . .
Nur bedingt, denn erstens muss man davon ausgehen, dass ein Drittel aller Bewertungen im Internet gefälscht sind. Zweitens haben Menschen ganz unterschiedliche Vorstellungen davon, was schön ist. Sie können höchstens die Weichen stellen. Wer im August nach Lloret de Mar fährt und sich über den Trubel wundert, ist natürlich selbst schuld. Andererseits, wenn ich drei Tage am Computer verbringe und nur das Beste heraussuche, lege ich die Latte meiner Erwartungen besonders hoch. Die Enttäuschung ist dann nicht weit.
Es ist interessant, dass kaum einer zugibt, wenn der Urlaub misslungen ist.
Ja, stimmt. Denn das wäre ja ein bitteres Eingeständnis, dass man nicht in der Lage war, das Paradies zu genießen. Also wird gnadenlos gelogen. Je mehr Geld ich ausgebe, desto mehr stehe ich unter Druck. Allerdings sind in der Rückschau betrachtet auch Dinge, die im Urlaub nicht so schön waren, oft schon wieder lustig. Es liegt immer in unserer Macht, wie wir die Dinge des Lebens nehmen.
Martin Hecht wurde am 5. November 1964 in Würzburg geboren. Aufgewachsen in Rottweil am Neckar, Studium der Politik, Geschichte, Soziologie und Kommunikationswissenschaften in Freiburg und London. Redaktionsvolontariat beim Südwestrundfunk in Baden-Baden, Stuttgart und London. Fünf Jahre Reporter beim Fernsehen. Seit 2001, als Sohn Jakob geboren wurde, freier Publizist, Autor, Schriftsteller. Martin Hecht lebt in Mainz. Das Buch „Irgendwie hatten wir uns das anders vorgestellt - Der Traum vom perfekten Urlaub“ ist im Eichborn Verlag erschienen und kostet 14,99 Euro. www.martinhecht.net
So gelingt der Urlaub
1 Gehen Sie überhaupt in den Urlaub. Wagen Sie etwas, brechen Sie auf, laufen Sie dem Wunsch entgegen.
2 Jeder fünfte Deutsche zwischen 30 und 44 Jahren kann im Urlaub nicht gut abschalten. Versuchen Sie es trotzdem - und finden Sie heraus, was Ihnen selbst guttut. Machen Sie Ihr Ding.
3 Nicht zu viel Zeit verplanen, nicht alles durchorganisieren. Raum für das Unerwartete lassen.
4 Handy daheim lassen oder wenigstens abschalten. Die letzte Mail zur Not beim Boarding checken, danach die Verbindung in die Heimat komplett kappen. Konsequent für die gesamte Urlaubszeit.
5 Bewegen Sie sich. Damit ist nicht unbedingt Sport gemeint, sondern rausgehen, offen sein für Neues, die Sinne öffnen, neugierig sein.