Schatzsuche in Sankt Petersburg

Schatzjäger suchen seit Ende des Zweiten Weltkrieges nach dem Bernsteinzimmer. Das Kunstwerk lässt sich derweil als Rekonstruktion bestaunen.
Susanne Hamann |
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Zarskoje Selo - Überall dieser weiße Staub. Wie Puderzucker hat er sich auf die Yuccapalme in der Ecke der Werkstatt gelegt. Wie Raureif überzieht er von innen die Fensterscheiben. Seltsam, dass beim Schleifen von orangefarbenem Bernstein weiße Rückstände entstehen. Und seltsam, dass es die Werkstatt der Bernsteinschleifer in einem Nebengebäude des Katharinenpalastes im russischen Zarskoje Selo überhaupt noch gibt. Denn eigentlich ist deren Werk vollendet. Vor genau zehn Jahren, zum 300. Geburtstag der Stadt Sankt Petersburg, wurde das berühmte Bernsteinzimmer feierlich eingeweiht. Eine 24 Jahre dauernde, aufwendige Rekonstruktion war geglückt.

Doch die Schleifer wirbeln noch immer Staub auf. „Sie kümmern sich um Reparaturen“, erklärt Veronika Donskaya, die englisch sprechende PR-Frau des „achten Weltwunders“. Die meiste Zeit über produzieren die 100 Künstler in der ehemaligen Schlossküche jedoch Kunstwerke aus Bernstein, die mit dem Zimmer nur entfernt zu tun haben. Miniaturausgaben von Teilen der berühmten Wandverkleidung, die Russland an Staatsgäste verschenkt. Auch der fünfmillionste Besucher diesen Sommer wurde mit solch einem Kunstwerk überrascht. Und natürlich das, was in den Shops des Museums an die unglaublichen Touristenmassen verkauft wird, die alltäglich auf braunen Überzieherschuhen durch die langen Palastflure schlurfen - im Schnitt 500 000 pro Jahr.

Der versteinerte Harz quillt hervor

Nur ein paar Minuten sind Zeit, um das begehbare Karamellbonbon in dem knapp 100 Quadratmeter großen Saal an der Palast-Westseite zu bewundern. Die meisten Besucher können sich kaum sattsehen und stellen erstaunt fest, dass der Bernstein nicht glatt wie eine Tapete an der Wand hängt. Der versteinerte Harz quillt hervor, bildet Blätter, Schnecken und Spiralen. Kronen, Muscheln, Früchte, Wappen mit Adlerköpfen oder einfache Rahmen sind in das schimmernde Gold der Ostsee geschnitzt. Von Buttercremeweiß über Honiggelb bis Granatrot schimmert die kostbare Wandverkleidung. Zum Anbeißen.

Allerdings, so verrät Veronika Donskaya, haben die Restauratoren der Natur auf die Sprünge geholfen. „Oft legt man ein Stück Goldpapier unter den teils durchsichtigen Bernstein. Manchmal wird gefärbt. Dazu benutzt man eine geheime Suppe“, sagt sie und präsentiert einen Kochtopf mit wässriger Flüssigkeit, dunkelrot wie Borschtsch. Schon die Danziger Bernsteindreher, die zwischen 1700 und 1709 das original Bernsteinzimmer für den preußischen König Friedrich I. schufen, haben so getrickst. Vor 300 Jahren hielt man Bernstein für einen wundertätigen Edelstein von sagenumwobener Herkunft. So überrascht es nicht, dass der russische Zar Peter der Große von dem prächtigen Zimmer im Berliner Stadtschloss bei seinem Besuch im Jahr 1712 begeistert war.

Er wollte es unbedingt haben. Doch erst Friedrichs Sohn Friedrich Wilhelm erfüllte den Wunsch. Denn der mochte lieber Soldaten als Kunst und tauschte mit Zar Peter 55 Quadratmeter Wandvertäfelung gegen 55 Gardeoffiziere. Als die Kisten nach Monaten in Petersburg ankamen, hatte Zar Peter das Interesse aber schon wieder verloren. Jahrelang stand der Schatz unausgepackt herum, bis Peters Tochter, Zarin Elisabeth, sich an ihn erinnerte und im Winterpalast an der Newa aufstellen ließ.

Kurz darauf folgte ein weiterer Umzug, dieses Mal raus nach Zarskoje Selo, 25 Kilometer südlich von Sankt Petersburg. Elisabeth ließ dort das Landhaus ihrer Mutter Katharina zu einem schicken Palast vergrößern - das Bernsteinzimmer wurde in einem Raum zwischen Ahnengalerie und Schlafzimmern eingebaut. Weil dieses Zimmer größer war als der ursprüngliche Aufstellort in Berlin, musste sich Architekt Francesco Rastrelli etwas einfallen lassen: Er fügte schmale, goldgerahmte Spiegel zwischen die Paneele und ließ den letzten Meter bis zur Decke mit täuschend echt wirkender Malerei in Bernsteinoptik verzieren. 1746 war der Einbau - endlich! - fertig. Der glitzernde, im Sonnenschein oder Kerzenlicht wunderschön funkelnde Raum beeindruckte schon damals.

Baltischer Bernstein schmilzt bei 240 bis 290 Grad Hitze

Doch zum Mythos wurde er erst, als er verschwand. Im Zweiten Weltkrieg besetzte die deutsche Wehrmacht Zarskoje Selo. 1941 wurden die Bernsteinwände abmontiert und nach Königsberg (heute Kaliningrad) gebracht. Im alten Ordensschloss gab es auch kurzzeitig eine Ausstellung. Seit der Kapitulation Königsbergs am 9. April 1945 verliert sich die Spur. Das Zimmer müsse verbrannt sein, sagen die einen - baltischer Bernstein schmilzt bei 240 bis 290 Grad Hitze. Es sei heimlich gen Westen geschafft worden, meinen die anderen. Seither gibt es immer wieder Sensationsmeldungen von Schatzsuchern, zuletzt diesen Oktober aus Wuppertal. Anstatt Unsummen für die Suche des Originals auszugeben, beschloss man in Russland, lieber eine Rekonstruktion anzufertigen.

1979 wurde mit dem ehrgeizigen Projekt in genau der Werkstatt begonnen, in der heute noch Bernstein geschliffen wird. Die Arbeiter sitzen an kleinen Arbeitstischen mit Schraubstock, Lupe und Licht. Unter der Tischplatte hängt ein ausrangiertes Autoradio. Darauf liegen Zahnarztbohrer, Zangen, Schleifpapiere, dazwischen Wodkaflaschen und Familienfotos - unaufgeräumt wie in dem Keller eines Hobbybastlers. Kaum zu glauben, dass hier ein sagenhaftes Kunstwerk wiederauferstanden ist. Zu Beginn ging es hier auch wirklich ziemlich laienhaft zu.

„Die Kunst des Bernsteinschnitzens war ja völlig in Vergessenheit geraten“, sagt Veronika Donskaya. Färben, schneiden, auf Holzplatten aufkleben - niemand wusste mehr, wie die Inkrustationstechnik geht. Als Vorlage der Rekonstruktion dienten 86 Schwarz-Weiß-Fotografien des sagenhaften Schatzkästchens aus den Jahren 1917 und 1942. „Die Meister haben ihre Probestücke auch in Schwarz-Weiß fotografiert und die Aufnahmen dann farblich verglichen“, sagt Veronika Donskaya. Deshalb hat der Nachbau fast ein Vierteljahrhundert gedauert. Ziemlich teuer war die Sache außerdem. Beim Schleifen wird Unmengen an Rohmaterial verbraucht. „Sechs Tonnen Bernstein wurden verarbeitet, aber nur 1,2 Tonnen Bernstein stecken im Zimmer“, sagt Veronika Donskaya.

Als die Arbeiten 1999 stockten, sprang die Ruhrgas AG ein und unterstützte das Projekt mit 3,5 Millionen Dollar (2,57 Mio. Euro). Ein Symbol der Versöhnung zwischen Russland und Deutschland. Insgesamt kostete das Projekt 10,4 Millionen Dollar (7,64 Mio. Euro). Wie gut den Russen der Nachbau gelungen ist, konnte noch während der Rekonstruktion bewiesen werden. 1997 tauchten bei Bremen drei Teile des Originals auf, die deutsche Soldaten gestohlen hatten: Die Arbeit der Meister von Zarskoje Selo konnte dem Vergleich standhalten. Was aber, wenn das Original doch noch gefunden würde? „Wir würden uns freuen“, sagt Veronika Donskaya. „Unser Direktor Boris Igdalov glaubt fest, dass es irgendwo schlummert.“

So wird das Reisewetter in Russland


Anreise
Mit Air Berlin ( www.airberlin.com ) ab Karlsruhe/Baden, Köln/Bonn oder Berlin-Tegel nach Sankt Petersburg. Zur Einreise nach Russland wird ein Visum benötigt. Die Beantragung übernimmt meist der Reiseveranstalter. Wer die Stadt bei einer Ostseekreuzfahrt besucht, kann sich oft die umständliche Visumbeschaffung sparen. Wenn man mit einem organisierten Ausflug von Bord geht, wird am Zoll ein Gruppenvisum ausgestellt. A

nbieterauswahl: Tui Cruises ( www.tui-cruises.com), Aida ( www.aida.de ), Hapag Lloyd Kreuzfahrten ( www.hlkf.de ).

Bernsteinwerkstatt
Das Bernsteinzimmer im Katharinenpalast in Zarskoje Selo, 25 Kilometer südlich von Sankt Petersburg, gehört zu den Klassikern jeder organisierten Petersburg-Reise ( www.tzar.ru ). Die Werkstatt ( www.amberroom.ru ) indes besichtigen nur wenige Reiseveranstalter. Ein ausführlicher Besuch steht zum Beispiel bei Gebeco Länder erleben in der Reise „St. Petersburg zum Kennenlernen“ auf dem Programm (ab 995 Euro, www.gebeco.de ).

Auch die Gruppen von Go East Reisen ( www.go-east.de ) und Lernidee Erlebnisreisen bieten einen Werkstatt-Besuch an. Unter dem Titel „Die Stadt der Zaren exklusiv für Sie“ organisiert Lernidee auch Individualreisen nach Sankt Petersburg, bei denen auch die Werkstätten besichtigt werden (ab 1150 Euro, www.lernidee.de ).

Allgemeine Informationen
Russland unterhält in Deutschland keine offizielle Fremdenverkehrszentrale. Infos erhält man über die Vertretung der Russischen Föderation in Berlin ( www.russische-botschaft.de ) oder beim Tourist Information Centre in Sankt Petersburg ( www.visit-petersburg.com).

Buchtipp: Baedeker St. Petersburg, Verlag Karl Baedeker, 17,95 Euro.

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