Rofflaschlucht: Braus!
Andeer - Die Wucht des Wassers ist bis in die Gaststube zu spüren. Wenn der Hinterrhein hier in Andeer im Schweizer Kanton Graubünden Hochwasser führt und durch die Felsen tost, zittern die Wände. Im Oktober 2006 war es besonders schlimm: „Alle Gläser fingen an zu klirren“, sagt Doris Melchior-Lanicca, Wirtin im Hotel und Restaurant Rofflaschlucht. Das Haus blieb verschont. Doch das Wasser hat dem Weg in die Schlucht, der hinter dem Wasserfall vorbeiführt, schwer zugesetzt. Heute ist von den Schäden nichts mehr zu sehen.
Eine Tür im Gasthaus führt auf den schmalen Pfad, der zunächst von hohen Bäumen gesäumt ist. Nach wenigen Metern fällt rechts vom Weg eine steile Wand senkrecht in die Tiefe. Wenige Bäume und Büsche krallen sich am Fels fest. Unten sprudelt türkisfarbenes Wasser über Steine und mündet flussabwärts in ein Becken. Ein Drahtgitter trennt den Pfad von der Schlucht, und über den Besuchern spannt sich bald ein Dach aus überhängenden Felsen. Aus dem Plätschern wird ein Tosen, mit dem der junge Hinterrhein sein Wasser in die Luft versprüht. Wie es braust! Wie das Wasser schäumend über Felsbrocken jagt.
Ein Vorhang aus Tropfen
Dann führt der Weg hinter den Wasserfall, und man hat den Fluss als gewaltigen Vorhang aus Tropfen vor sich, der den Augen keinerlei Möglichkeit gibt, sich irgendwo festzuhalten. Das Vibrieren und die Kraft des Wasser ist so deutlich zu spüren, dass man sich sehr gut vorstellen kann, wie es 2006 den Weg mit sich gerissen hat. Einen Weg, den Christian Pitschen-Melchior dem Fels abgetrotzt hat - mit Handbohrer, Tausenden Sprengladungen - und viel Geduld. Diese Idee ist dem Bauernsohn, dessen Eltern das Haus an der Rofflaschlucht besaßen, in den Vereinigten Staaten gekommen. Dorthin war der Schweizer Ende des 19. Jahrhunderts ausgewandert. Als Diener eines reichen Herrn reiste er zu den Niagarafällen.
Als er sah, wie die Menschen die Wassermassen als sprudelnde Geldquelle nutzten, erinnerte er sich an das tosende Wasser hinter seinem Elternhaus, das er zwar oft gehört, aber kaum gesehen hatte. Das wollte er ändern. Er kehrte nach Andeer in Graubünden zurück. Sieben Winter lang bearbeitete er den Fels mit Hacken, Handbohrmaschinen und unzähligen Sprengladungen. Das ganze Dorf schüttelte den Kopf über den Spinner am Berg. Doch er blieb hartnäckig. 1914 war die Tat vollbracht, der 300 Meter lange Weg in die Schlucht fertig. Vor allem seine Nachkommen profitierten vom Eintritt, den Besucher dafür zahlten. Der Film „Via Mala“ aus dem Jahre 1961 wurde hier gedreht, Hauptdarsteller Gert Fröbe kehrte im Gasthaus ein, wie Doris Melchior-Lanicca stolz erzählt. „Die meisten Besucher kamen in den 50er und 60er Jahren hierher, als das Gasthaus noch an der Durchgangsstraße lag“, sagt sie.
Es musste eine neue Einnahmequelle her
Als die Nationalstraße gebaut wurde, ging es bergab mit den Übernachtungen. Andeer war schon seit Jahrhunderten ein Dorf, dessen Wohl und Wehe vom Transitverkehr abhing. Es liegt auf knapp 1000 Meter Höhe unterhalb des Splügenpasses - und damit an einer der wichtigsten Routen über die Alpen, die bereits von den Römern genutzt wurden. Die Bauern verdienten sich ein Zubrot als sogenannte Säumer, sie transportierten Waren auf den gefährlichen Wegen zwischen Chur und Chiavenna. Über Jahrhunderte funktionierte dieses Transportsystem. Bis vor fast 200 Jahren eine Straße über den Splügenpass gebaut wurde. Also musste eine neue Einnahmequelle her.
Christian Pitschen-Melchior suchte und fand sie in der Rofflaschlucht. Wie schwer der Urgroßonkel damals geschuftet haben muss, wurde dem Ehepaar Melchior-Lanicca erst bewusst, als sie den Weg nach einem Hochwasser reparieren mussten. Sie haben verstanden, warum er damals nur im Winter gearbeitet hat: „Man wird verrückt, wenn man zwölf Stunden in diesem Lärm steht“, sagt Doris Melchior-Lanicca. Im Winter dagegen friert die äußere Hülle des Wasserfalls zu, es wird still in der Schlucht.
Ein toller Anblick, doch Urlauber dürfen nicht hinein, weil der Weg zu rutschig und zu gefährlich ist. Im Winter kommen ohnehin weniger. Dann hat die Familie Zeit, Tischdecken zu weben, Zimmer zu renovieren, eine neue Wasserversorgung zu bauen und eine Anlage, die für sie Strom erzeugt. Ein Fall, bei dem die Wucht des Wassers ein Segen für die Nachkommen von Christian Pitschen-Melchior ist.
Anreise
Mit dem Auto über die Autobahn 8 und A 96 bis Bregenz, in Österreich und der Schweiz weiter auf der A 14 und danach die A 13 bis Andeer. Per Zug zu erreichen mit Umsteigen in Zürich und Chur.
Rofflaschlucht
Der Weg zum Wasserfall beginnt im Gasthaus Rofflaschlucht, das oberhalb von Andeer liegt. Eintritt für Erwachsene 3 Schweizer Franken, für Kinder 2 Schweizer Franken, Übernachtungsgäste haben freien Eintritt.
Übernachten
Gasthaus Rofflaschlucht, Telefon 00 41 / 81 / 6 61 11 97, www.rofflaschlucht.ch , Übernachtung pro Person von 47 bis 60 Franken.
Im Hotel Fravi, das direkt mit dem Mineralbad in Andeer verbunden ist, logierte früher der Adel, Telefon 00 41 / 81 / 6 60 01 01, www.fravi-hotel.de , Übernachtung pro Person im DZ ab 130 Franken.
Weitere Unterkünfte über Viamala Tourismus Telefon 00 41 / 81 / 6 50 90 30. www.viamala.ch .
Ausflugstipps
Wanderer können sich auf die Spuren der Säumer begeben: Die Via Spluga führt von Thusis über den Splügenpass bis nach Chiavenna und vorbei an der Rofflaschlucht. Unterwegs kann man Kirchen und Museen besichtigen, sich im Vorderrhein abkühlen, über den spektakulären Traversinersteg, eine 60 Meter lange Hängebrücke, und die berühmte Viamala-Schlucht besichtigen.
Für Kinder gibt es dort auch eine Schatzkarte. Der 65 Kilometer lange Weg wird auch als Viertages-Pauschaltour inklusive Gepäcktransport angeboten (je nach Unterkunft zwischen 363 und 498 Euro pro Person). Dank guter Postbusverbindungen sind Etappen auf eigene Faust möglich. Allerdings kann es zwischendurch laut werden, weil manche Wege parallel zur Straße führen.
Allgemeine Informationen
Schweiz Tourismus, Telefon 0 08 00 / 10 02 00 29, www.myswitzerland.com . Graubünden Ferien in Chur, Telefon 00 41 / 81 / 2 54 24 24, www.graubuenden.ch