Ostern auf Korsika: Der Gefesselte im Büßerhemd

Bei feierlichen Prozessionen und gespenstischen Umzügen ist auf der Mittelmeerinsel Korsika Gänsehaut garantiert.
von  Abendzeitung
Osterprozession am Friedhof in Bonifacio, Foto: Norbert Eisele-Hein
Osterprozession am Friedhof in Bonifacio, Foto: Norbert Eisele-Hein © srt

Sartene - Bei feierlichen Prozessionen und gespenstischen Umzügen ist auf der Mittelmeerinsel Korsika Gänsehaut garantiert.

"Perdono. Perdono mio, dio." Die Stimme des Pfarrers hallt metallen aus dem Megaphon. Hunderte Gläubige stimmen andächtig mit ein. Plötzlich sinkt der Cattenaciu zu Boden. Das 34 Kilogramm schwere Holzkreuz bleibt dumpf auf ihm liegen. Die 16 Kilogramm schwere Eisenkette an seinem Knöchel wetzt rasselnd über das kalte Steinpflaster. Der Cattenaciu ist barfuß. Seine purpurrote Büßerkutte maskiert ihn fast vollständig. Lediglich seine Pupillen sind durch die schmalen Sichtschlitze seiner Kapuze erkennbar. In ihnen spiegelt sich ein wirres Flackern der Kerzenlichter.

Cattenaciu stammt aus dem Korsischen und bedeutet der Gefesselte. Der Begriff steht synonym für die bedeutendste Osterfeierlichkeit Korsikas: Die Büßerprozession in Sartene. Am Karfreitag gegen 20.30 Uhr startet der Bußgang in der Kirche Santa Maria Assunta. Dabei vollziehen katholische Würdenträger, Honoratioren der Stadt und ein Großteil der Bürger Sartenes den Gang Jesus Christus nach Golgatha.

Die Identität des Cattenaciu bleibt geheim

Den Geistlichen folgt der Cattenaciu. Er muss anonym bleiben. Nur der Pfarrer kennt seine Identität. Die Liste derer, die den Leidensweg Jesus Christus am eigenen Leib erfahren wollen, ist lang. Es heißt, es seien häufig Straftäter, die ihre Taten auf diesem beschwerlichen Weg büßen wollen. Sartenes Altstadtviertel Sant’Anna und Borgo bieten die perfekte Kulisse dazu. Schmale Gassen, bröckelnder Putz und durch die schmiedeeisernen Gitter der Balkone und Fenster schimmern Grableuchten. Noch weit bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein wütete in diesen Gassen die Vendetta. Die berühmt-berüchtigte Blutrache raffte seinerzeit einen beachtlichen Teil junger Männer dahin.

Dem biblischen Drehbuch konform stürzt der Cattenaciu unterwegs dreimal. Simon von Kyrene, in einer weißen Büßerkutte, darf ihm aufhelfen. Es folgen acht, sogenannte kleine Büßer in schwarzen Kutten. Sie transportieren eine Jesusfigur, eingewickelt in ein Leichentuch und abgedeckt durch einen schwarzen Baldachin auf einer Trage. Ein gespenstischer Umzug, nervös erhellt vom Blitzlichtgewitter der Zuschauer und den Leuchten zahlreicher Fernsehteams. Bei der anschließenden Messe droht die Kirche aus allen Nähten zu platzen. "Manchmal erkennt man ihn an den Füßen", raunzte mir eine ältere Korsin vor der Prozession zu. Tatsächlich, vor allem die älteren Herrschaften werfen im Vorbeigehen gerne einen verstohlenen Blick auf die Füße des Büßers. Bis zum nächsten Karfreitag werden sich wohl wieder zahlreiche Mythen um die Identität des Cattenaciu ranken.

Im Altstadtlabyrinth der religiösen Festung

In Bonifacio starten die Osterprozessionen schon am Gründonnerstag. Die südlichste Stadt Korsikas thront seiltänzerisch gewagt auf einem mächtigen Kalksporn. Ihr verwinkeltes Altstadtlabyrinth nutzte schon Francis Ford Coppola für seine Mafia Trilogie "Der Pate". Fünf Kirchen und sieben Bruderschaften geben ihr den Status einer religiösen Festung. Entsprechend inflationär fallen auch die Prozessionen aus. Am Osterwochenende holen alle Bruderschaften ihre reich verzierten Heiligenschreine und Kreuze hervor und schreiten mit ihnen von der Ober- in die Unterstadt. Über die Zugbrücke, früher der einzige Zugang zur Altstadt, gelangen die Bruderschaften zu einem Wegkreuz an den steilen Klippen. Von hier aus liegt Sardinien fast in Rufweite. An Tagen, an denen der Wüstenwind Scirocco über die Meerenge fegt und die Stadt in seinen Sandschleier hüllt, glaubt man Afrika riechen zu können.

Hier lässt sich der Alltag nicht aus der Ruhe bringen

Über eine steile Treppe gelangen die Umzüge in den windgeschützten Naturhafen der Neustadt. Dort lässt sich der Alltag vor allem bei Helligkeit kaum aus der Ruhe bringen. Jean-Francois verkauft Fische, Muscheln und Krustentiere unweit der Hafenkapelle. Touristen lassen sich mit kleinen Motorbooten zu den romantischen Grotten in der Steilküste schippern. Andere beäugen das Schauspiel aus sicherer Entfernung bei einem Café au leite. Trotz der Ku-Klux-Clan-ähnlichen Kutten, der barfüßigen Büßer und dem mystischen Gemurmel von Gebetsformeln – bei Tageslicht fehlt der Zeremonie einfach der Spukeffekt. Doch schon in der Dämmerung entfalten die Fackeln und Laternen ihre volle Wirkung. Wenn dann die Gemeinschaft der Gläubigen noch am Friedhof mit seinen schummrigen Familiengruften vorbeidefiliert, ist Gänsehaut garantiert.

Weniger unheimlich, dafür umso lauter gestaltet sich die orthodoxe Variante der Feierlichkeiten am Ostersonntag. In Cargese an der Westküste, wo im 17. Jahrhundert 800 griechische Emigranten auf der Flucht vor der ottomanischen Knechtschaft anlandeten, wird die Wiederauferstehung Jesus Christus mit feierlichem Geläut verkündet. Noch beim Verlassen der Kirche feuern Ministranten die ersten Gewehrsalven aus ihren Schrotflinten ab. Gleichzeitig surren die Videokameras los. Fotografen, hoch oben in den Platanen vor dem Kirchenportal um Gleichgewicht bemüht, hoffen auf das ultimative Motiv.

Byzantinisches Kunstwerk von unschätzbarem Wert

Der Archimandrit schwingt das Weihrauchfass. Helfer tragen eine reichlich in Gold gehaltene Ikone durch die Stadt. Das byzantinische Kunstwerk aus dem 12. Jahrhundert ist von unschätzbarem Wert. Sie zeigt die Jungfrau Maria mit dem Jesuskind und im unteren Bildteil die Heiligen Spiridon und Nikolaus. Der orthodoxe Goldreigen wird wiederholt von heftigen Gewehrsalven erschüttert. Junge Mädchen, herausgeputzt wie Christina Aguilera in einem MTV-Video, sorgen für den Nachschub. Aus schmucklosen Plastiktüten reichen sie den Ministranten eine Platzpatrone nach der anderen. Auf einem Hügel am Ortsrand wird ein Gebet gesprochen. Weit reicht der Blick in die noch leicht verschneiten Bergketten Korsikas und auf das sattblaue Meer. In diesem Urlaubspanorama wirkt der von schwerbewaffneten Messdienern eskortierte Archimandrit mehr als bizarr.

Nach dem feierlichen Umzug gibt der Archimandrit der Lokalpresse noch heftig gestikulierend ein Interview. Danach rauchen er und seine Ministranten genüsslich eine Zigarette im Pfarrhof. Kaum verlaufen sich die Menschenmassen in den Gassen, wirkt Cargese als wäre nie etwas geschehen. Im Nu gewinnt die beschauliche Kleinstadt seine legere Identität als Badeort zurück. Lediglich das Trottoir erweckt den Eindruck, als hätten sich rivalisierende Straßengangs einen erbitterten Revierkampf geliefert. Unzählige Patronenhülsen zeichnen exakt den Weg der Prozession nach – das ist Ostern auf korsisch.

Norbert Eisele-Hein

Service Korsika

Französisches Fremdenverkehrsamt, Maison de la France, Zeppelinallee 37, 60325 Frankfurt, Servicetelefon 0900/1570025, www.franceguide.com und www.visit-corsica.com.

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