Offline-Urlaub: Frei-Zeit
Kannst du mich sehen? Ich kann dich sehen, aber ich höre dich nicht. Hörst du mich denn?“ So geht das bereits seit einer Stunde. Jill sitzt mit ihrem Smartphone auf dem lauwarmen Marmorboden eines hippen Backpacker-Hotels in Hoi An, Vietnam. Und versucht eisern, Bild- und Tonkontakt zu den Daheimgebliebenen in Sydney aufzubauen. Im Minutentakt wechselt sie von ihrer Mutter („Ich liebe dich auch, Mom“) zu ihrem Freund („Ach, ich vermisse dich so“) und dann wieder zu ihrer besten Freundin („Kannst du nicht auf einen vietnamesischen Kaffee vorbeikommen?“). Mit ihren Kommunikationsversuchen ist sie bei weitem nicht die Einzige. Im Restaurant nebenan gratulieren zwei Dänen, eine Deutsche und ein Amerikaner einer älteren Dame in Neuseeland zum Geburtstag, zur Freude ihrer Tochter, die freudestrahlend das iPad durchs Lokal schwenkt. Und im Resort gegenüber lässt ein russischer Student beinahe seinen Laptop in den Thu-Bon-Fluss fallen, bei dem verzweifelten Versuch, seinem Kumpel den Ausblick vom Balkon seines Zimmers zu zeigen.
Mit moderner Telekommunikation ist zwar alles schön einfach, aber manchmal auch schön langweilig. Die Daheimgebliebenen müssen nicht rätseln, was man eigentlich in diesem Moment so macht, da man in Echtzeit Statusberichte twittert. Und keiner muss sich mehr auf endlose Fotoabende samt lustigen Anekdoten einlassen. Die atemberaubenden Sonnenuntergangsfotos hat man nämlich ohnehin bereits auf dem „Auf und davon“-Blog im Schnelldurchlauf durchgeklickt, und war gleichzeitig stets informiert über sämtliche Stadien der Reise-Diarrhö, den Ärger über die geklaute Kamera und die Begeisterung über die Freundlichkeit der Asiaten. Die Frage „Wie war’s denn im Urlaub?“ gehört daher in die verstaubte Kiste für antiquierte Floskeln der höflichen Konversation. Letztere lässt sich zudem auch auf Reisen inzwischen ganz charmant umgehen. Wer keine Lust auf Backpacker-Geplänkel oder „Ist Ihre Suite auch so komfortabel“-Small Talk mit dem Sitznachbarn in der Strandbar hat, klappt im passenden Moment seinen Laptop auf, zieht Tablet und/oder Smartphone aus der Tasche auf und tut möglichst geschäftig. Auf ähnliche Weise entledigt man sich auch ungewollter Urlaubsbekanntschaften. Die Ausrede „Ich muss leider los, ich habe noch ein Skype-Date“ wirkt auf der thailändischen Trauminsel wesentlich glaubwürdiger als „Ich muss jetzt ins Bett, hab’ morgen einen langen Tag“.
„Offline-Urlaub“ oder gar „Digital Detox Retreat“ sind die Zauberworte
Umso schöner: Auch in diesen modernen Zeiten ist der Draht in die Heimat nicht ganz perfekt. Die Verbindung wird ständig unterbrochen, das Bild ist pixelig, die Mutti hat den Finger auf der Linse, und der Verlobte findet es unerträglich, dass im Hintergrund irgendwelche Leute plappern. Selbst im teuersten Hotel gibt es noch Zimmer, in denen die WLAN-Verbindung nicht oder wenn, dann überhaupt nur extrem schleppend funktioniert - und gegen den nachmittäglichen Stromausfall im indischen Ayurveda-Resort kann selbst Bill Gates nichts tun. Und zu allem Überfluss gibt es noch diese verrückten Staaten, die Facebook verbieten. Ein Traum für jeden vermeintlichen „Demnächst melde ich mich ab“-Süchtling, der mit dem Flug nach China gleich die Entwöhnungstherapie vom digitalen Leben mitbucht. Der Drang nach der ständigen, möglichst drahtlosen Verbindung in die Heimat geht allerdings so weit, dass Hotels und Reiseunternehmen inzwischen internetfreie Erholungswochen anbieten. „Offline-Urlaub“ oder gar „Digital Detox Retreat“ sind die Zauberworte für die universale Heilung durchs kollektive Steckerziehen. Statt Mails vom Chef und Kundengesprächen am Strand stehen Kühemelken und Sockenstricken in der Steiermark oder Cashewnüsse ernten und Yogameditation in Kambodscha auf dem Programm. Der Grund für solche Angebote sind Studien, die offenbaren, dass jeder zweite Deutsche seine beruflichen Mails auch im Urlaub liest und kaum jemand in der Lage ist, an freien Tagen sein Handy auszuschalten. Das Ergebnis: Selbst der Urlaub ist nicht mehr wirklich erholsam, und das Leben ohne Laptop, Smartphone und Co. muss sanft und sehr vorsichtig geübt werden.
So vorsichtig, dass es inzwischen sogar Berater gibt, die ihren „Patienten“ beim Entschleunigen und digitalen Entgiften unterstützend zur Seite stehen. Kalter Entzug allerdings kann auch zur lebensverändernden Offenbarung werden. Wer sich entschieden hat, in den nächsten Ferien allen elektronischen Geräten den Laufpass zu geben oder eine Woche auf einer internetfreien Almhütte gebucht hat, wird eine Berg- und Talfahrt der allerersten Güte durchleben. In den ersten Stunden oder gar Tagen macht sich wachsende Nervosität breit, die mit einem ständigen Ins-Leere-Greifen bis hin zu ernsthaften Entzugserscheinungen oder gar an die frühe Kindheit erinnernde Langeweile (!) einhergeht. Diese Symptome werden sich allerdings nach dem Überwinden des ersten Schocks in völlige Euphorie verwandeln. Plötzlich hat man Zeit. Sich mit dem Melonenverkäufer zu unterhalten, anstatt mit dem besten Freund zu chatten. Einfach mal drauflos zu laufen, ohne dass das Handygepiepse das Vogelgezwitscher oder die rauschenden Wellen übertönt. Die Urlaubslektüre an einem Nachmittag zu Ende zu lesen, ohne zwischendurch Mails zu checken. Aus dem Fenster zu schauen anstatt auf einen Bildschirm. Im Liegestuhl einzuschlafen. Eine Sandburg zu bauen. Die Liebste über den See zu rudern. Stinkenden Kuhmist über den Hof zu karren und das erste Mal im Leben eine Stricknadel in der Hand zu halten. Welch schönes, analoges Leben!