Oderbruch: Am Grenzfluss

Eine Kanu- und Fahrradtour durch das Oderbruch bringt Natur und Geschichte zusammen.
von  Franz Lerchenmüller aus Reitwein

Reitwein - Manchmal ist es, als kämpfe man sich durch grünlichen Grießbrei. Dick und zäh breitet sich der Teppich aus Entengrütze aus, und man muss das Paddel wie einen Spaten einstechen, um das Kanu durch den Modder vorwärtszuschieben. Dann wieder hat sich eine alte Birke quer gelegt: Heißt es wieder, das Boot ein Stück flussaufwärts zu tragen? Eisvögel schwirren, ein Graureiher hebt ungelenk ab. Von der Seite fällt streifiges Licht durch die Erlen hier an der Alten Oder bei Reitwein.

Kleine Datschen ducken sich unter die Bäume am Ufer, fast immer scharren Hühner hinter Maschendraht. Viele Datschen sind brüchig und heruntergekommen. In Gorgast hat ein Hobbykünstler sich blaue Delfine aus Beton in den Garten gestellt und ein buntes Reich mit Ziehbrunnen und gemauertem Zirkusdirektor hingezaubert. Ein Angler zeigt auf einen gesplitterten Baumstumpf: „Der hier ist jetzt auch gekippt. Ich weiß noch, wie 47 die Eisschollen in den Ästen hingen.“ 1947 - das war, als der Damm brach und das kriegsversehrte Land noch einmal übel gebeutelt wurde.

So wunderbar erhaltene Streifen Natur wie hier gibt es zwischen den Maisäckern und Sonnenblumenfeldern des Oderbruch eher selten. Oderbruch - das klingt abenteuerlich und ganz nach ungezähmter Wildnis. Tatsächlich aber handelt es sich um eine nicht mal besonders alte, der ungestümen Natur abgetrotzte Kulturlandschaft. Etwa 60 Kilometer lang und zwischen zwölf und 20 Kilometer breit erstreckt sich dieser flache, tief gelegene Landstrich entlang der Oder von Lebus im Südosten bis Bad Freienwalde im Nordwesten: ein Binnendelta, durch das der beliebte Oder-Neiße-Radweg führt.

An allen Ecken und Enden fehlen Arbeitsplätze

Die Vergangenheit ist hier immer präsent. Denn so wie jetzt sieht das Oderbruch erst seit Mitte des 18. Jahrhunderts aus. Von 1747 bis 1753 ließ Friedrich II. einen fast 20 Kilometer langen Kanal graben, durch den der östlichste Arm der weit verzweigten Oder zum Hauptstrom gemacht wurde. Aus dem sumpfigen Land gewann man mittels eines ausgeklügelten Systems von Gräben und Dämmen 32 500 Hektar frisches Ackerland. 40 neue Dörfer entstanden. Siedler aus Sachsen, Schwaben und Hessen wurden angeworben. Aus Frankreich kamen Hugenotten - das „Nationalgericht“ des Oderbruch, feines Hühnerfrikassee mit Spargel, Champignons und Sahne, erinnert noch heute an die frühen Feinschmecker.

In Letschin leiert Wolfgang Bartsch, der Wirt des „Alten Fritz“, diese schon hundertmal vorgetragene Geschichte gern noch einmal herunter. Noch lieber erzählt er, wie er 1986 die in der DDR ausrangierte Statue des Preußenkönigs in einer Nacht-und-Nebel-Aktion wieder aufstellte. Jetzt steht sie direkt vor seiner Kneipe. Es versteht sich da fast von selbst, dass Bartsch „Rex-Pils“ aus Potsdam ausschenkt, seinen Kater „Fritze“ ruft, zwei Hinterzimmer voller Friedrich-Büsten und -Bilder gesammelt hat und die Bestellung mit einem zackigen „Wenn Preußen ruft, komme ich pflichtgemäß“ aufnimmt.

An einen späteren blutigen Abschnitt der Geschichte erinnert die Gedenkstätte Seelower Höhen: Hier fand im April 1945 die letzte große Schlacht des Zweiten Weltkriegs statt, bei der 33 000 sowjetische, 12 000 deutsche und 5000 polnische Soldaten starben. Die Panzer und Haubitzen, die Fotos der zerstörten Städte und die Gräber der blutjungen russischen Soldaten summieren sich zu einer eindringlichen Lehrstunde in Sachen politischer Irrsinn.

Fotos und Texttafeln dokumentieren die Lebensläufe

Natürlich sind auch 50 Jahre DDR im Oderbruch präsent - bevorzugt in Form bröckelnder Mauern einstiger LPG-Schuppen. In Golzow aber erinnert darüber hinaus ein eigenes Museum an ein ganz besonderes

Dokument des Alltags in der DDR: „Die Kinder von Golzow“. Elke Hinkelmann hat es nie bereut, die Kameras in ihr Leben gelassen zu haben: „Als Kind war man stolz. Der ganze Ort war stolz.“ Stolz darauf, dass der Regisseur Winfried Junge ausgerechnet das Oderbruch-Städtchen Golzow ausgewählt hatte, um ab 1961 das Leben von 26 frisch eingeschulten Kindern mit der Kamera zu begleiten. Eine Erfolgsgeschichte vom Aufbau auf dem Lande hatten die DDR-Oberen sich vorgestellt: Herausgekommen sind am Ende 19 Filme, die das Leben dieser Menschen über Jahre hinweg zeigen. Der letzte wurde 2007 abgeschlossen. Fotos und Texttafeln dokumentieren die Lebensläufe, und wer will, kann sich im Vorführraum einen der Streifen ansehen: „Und wenn sie nicht gestorben sind . . .“ - fünf sind inzwischen tot.

Draußen wartet wieder die Gegenwart. Ein paar landwirtschaftliche Großbetriebe gibt es heute im Oderbruch, eine Firma friert Gemüse ein, Arbeit fehlt an allen Ecken und Enden - kein Wunder, dass die Jungen darauf brennen, in die Großstädte wegzukommen.

Der letzte Ausflug geht noch einmal an den Fluss, der das Leben hier immer prägte und prägt. Die Silhouetten von Pappeln und ausladenden Weiden begleiten den Radfahrer. Kleine Schilfinseln bremsen den Strom, ein Kiebitzschwarm sammelt sich, zwei Kraniche landen. So hoch der Himmel mit seinen scharf konturierten weißen Wolken sich über die Auen spannt, so tief spiegelt er sich in den überschwemmten Polderwiesen. Jeder Blick vom Damm zeigt ein Bild im Stil niederländischer Meister. Da ist es noch einmal: das
romantische, das wilde, das aufregend schöne Oderbruch - so wie es wohl war, bevor der „olle Fritz“ sich ans Werk machte.


Anreise
Per Bahn: Von Berlin oder Frankfurt/Oder nach Seelow-Gusow. Mit dem Auto: Von Berlin über die B 1 nach Seelow, von Frankfurt/Oder über B 112/B 167 nach Seelow.

Unterkunft
Pension Wagner, Hauptstr. 67, 15328 Golzow, Tel. 03 34 72 / 5 02 96, www.gasthaus-pension-wagner.de, DZ 55 Euro;

Hotel Maschinenhaus, Hafenstr. 2, 15324 Groß Neuendorf, Tel. 03 34 78 / 38 77 10, www.maschinenhaus-online.de, DZ 90 Euro.

Essen und Trinken
Koch und Kunst (auf Vorbestellung), Thomas Hessheimer, Groß Neuendorf, Tel. 03 34 78 / 45 41, www.kochundkunst.de;

Restaurant Eis-Alex, Hauptstraße 33, Golzow, Tel. 03 34 72 / 247.

Kunst und Veranstaltungen
Kunstspeicher Friedersdorf, Tel.: 0 33 46 / 84 38 56, www.kunstspeicher-friedersdorf.de

Museum Kinder von Golzow, Tel. 03 34 72 / 5 18 82, info@golzow-oderbruch.de

Gedenkstätte Seelower Höhen, Tel. 0 33 46 / 597, www.gedenkstaette-seelower-hoehen.de

Korb- und Flechtmuseum Thea Müller, Tel. 03 34 73 / 248, 15328 Buschdorf.

Führungen: Rita Schwarz, Müncheberg, Tel. 03 34 32 / 9 19 55, www.oderlandreisen.de

Kanutouren und -verleih Kandi’s Abenteuertouren, Küstriner Vorland, Tel. 03 34 72 / 5 88 79, www.abenteuertouren.com.

Allgemeine Informationen
Touristinformation Oderbruch und Lebuser Land, Berliner Str. 1-3, Tel. 0 33 46 / 84 98 08,www.oderbruch-tourismus.com

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