Modische Emanzipation

Wer an Fashion denkt, dem fallen zuerst Paris, Mailand, London oder New York ein. Unser neues Mekka für Mode heißt: Tallinn!
Daniela Eichert |
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Es sind die weißen Nächte im Sommer, in denen es nicht dunkel werden will, die Kriss Soonik als Erstes einfallen, wenn sie an ihre Heimat Estland denkt. Auch daran, wie ruhig und langsam das Leben in dem baltischen Staat mit seinen 1,4 Millionen Menschen ist, erinnert sich die heute in London lebende Designerin gern. Selbst in Kalamaja, das einst von Esten bewohnt wurde, die vom Land in die Stadt zogen, um sich als Fischer, Hafenarbeiter oder Lotse zu verdingen, ticken die Uhren gemächlich. Dabei ist das Viertel in Tallinns Norden schwer im Kommen. Junge Familien bevölkern die schmucken, modernisierten Holzhäuser, die so charakteristisch für die Gegend sind. Wer hier unterwegs ist, fühlt sich an den Prenzlauer Berg in Berlin erinnert. Kinderwagen werden von jungen Männern mit geschulterter Laptoptasche und Handy am Ohr geschoben. Kaum ein Hinterhof, in dem nicht wenigstens ein Sandkasten steht, kaum ein Straßenzug ohne Kita.

Derart entschleunigt wie das angesagte Viertel der estnischen Hauptstadt wirkt irgendwie ganz Estland. Dabei entwickelt sich das Perlchen an der Ostsee, das sich mit dem Auto in fünf Stunden durchqueren lässt, im Sauseschritt. „Vor allem in der Mode- und Designszene tut sich jede Menge“, erzählt Kriss Soonik, deren Dessous auch den Kurven der Schauspielerin Mischa Barton und Bond-Girl Berenice Marlohe schmeicheln. „Die ganze Welt liebt die Geschichten von dem kleinen Land, in dem so viele aufregende Dinge passieren.“

Etwa jene von den jungen Kreativen, die gerade dabei sind, eigene Firmen zu gründen und Marken zu entwickeln. Dass die meisten auch in Estland produzieren, lässt die Zuhörer umso gebannter lauschen. Oder gleich den Vorhang auf der ganz großen Bühne für die eigenwilligen Exporte aus Europas Osten heben. Etwa bei der Fashion Week in Berlin wo Lilli Jahilo im vergangenen Jahr Models in elfenhaften, zarten Gewändern über den Laufsteg schweben ließ. Doch auch wenn ihre Designs oft aussehen, als seien sie für feengleiche Wesen mit Alabasterhaut gemacht, ist Lilli Jahilo bodenständig, zupackend und schnell. In ihrem Job und wenn sie spricht. Als hätte sie keine Zeit, zwischen zwei Sätzen eine Pause zu machen. „Das Modegeschäft ist ein rasantes Business. Ich stecke viel Energie rein, bekomme aber auch viel zurück.“ Wenn die 29-Jährige in das glückliche Gesicht einer Braut blickt, die ein von ihr entworfenes Kleid trägt, dann ist das der Motor, der sie antreibt. Menschen mit Mode ein gutes Lebensgefühl zu geben - das geht, davon ist die Kreative mit dem Schneewittchenlook überzeugt. Hosen kommen ihr nicht in die Tüte und erst recht nicht in den Schrank. Dafür jede Menge ihrer selbst entworfenen, romantischen Kleider, die sie fast ausschließlich trägt. „Weil ich das Leben feiern will. Dazu gehört es, mich in dem, was ich anziehe, feminin und vor allem wohl zu fühlen.“

In Estland stehen die Zeichen auf Heimatliebe mit einem Schuss Weltoffenheit

Eine Lebensphilosophie, die viele junge Esten mit Lilli Jahilo zu teilen scheinen. 90 Minuten mit der Schnellfähre vom finnischen Helsinki entfernt, stehen die Zeichen in Estland auf Heimatliebe mit einem großen Schuss lässiger Weltoffenheit. Vorbei die Zeit, als nach dem Fall der Berliner Mauer westliche Modeketten auch das Stadtbild von Tallinn prägten. Die jungen Esten sind aus diesen Klamotten herausgewachsen. Der Trend geht hin zu lokal produzierten Designerstücken mit hoher Qualität. Ethisch korrekt – nicht nur für ein gutes Gefühl auf der Haut, sondern auch im Kopf. Das lassen sich die modebewussten Esten was kosten, kaufen dafür weniger, aber bewusst. Wenn schon Kette, dann mit Stil und quasi vom Nachbarn. Denn durch die eng gesteckten Landesgrenzen kennt in Estland nahezu jeder jeden. Werbung, auch für die Designerklamotten, geht über Mundpropaganda. So erzählen sich die estnischen Fashionistas gerne vom „Mädchen von nebenan“, das für "Tallinn DollsKleider entwirft, die irgendwie ein bisschen nach den Wilden Fünfzigern aussehen. Ein „Püppchen“ ist Mari Martin jedoch nicht. Auch wenn das der Name ihres Modelabels suggerieren könnte. Als „verspielt“ bezeichnet sie lediglich ihre Designs. „Mode muss nicht todernst sein. Sie ist ein Spiel, das ich gerne spiele.“ Und erfolgreich. In vielen europäischen Städten hat das Doll-Label die Herzen von Frauen erobert, die anziehen, wonach ihnen gerade der Sinn steht. Das ist ganz nach dem Geschmack von Mari Martin, für die es in Sachen Stil keine Regeln gibt. Wenn die Blonde mit den tiefblauen Augen den Boden unter den Füßen verliert, kommen ihr die besten Einfälle. „Im Flugzeug, nach einem meiner spontanen Trips, kann ich Ideen für neue Kollektionen am besten sortieren.“

Immer wieder um den Globus jettet auch Tanel Veenre. Zu seinen international beachteten Ausstellungen wie jüngst in München, wo er Schmuckes unter dem Titel „My Kingdom“ zeigte. Abgehoben ist Veenre aber nicht. Sein Königreich bleibt Estland. Auch wenn der 35-Jährige mit seiner Schmuck-Kunst Galeriebesuchern in den USA oder Schweden ein Glitzern in die Augen zaubert. In seiner Heimat, in der die Design-Szene seiner Meinung nach wächst wie Gras im Frühling, erntet er die besten Ideen aus „seinem inneren Garten“. Allzu Konstruiertes hinterlässt bei Veenre ein zartes Kräuseln auf der Stirn. Der Mann, der tut, was er tut, um Frauen noch schöner zu machen, verlässt sich auf seine Intuition. Und das rät er auch Estland-Besuchern, wenn sie Einheimische kennenlernen. „Wir sind auf den ersten Blick Kühlschränke, aber wenn ihr unsere Herzen ein Mal zum Schmelzen gebracht habt, dann für immer.“


 

Für den großen und kleinen Hunger

F-hoone: Die ganze Woche lang Kult. Altes Warenhaus, nahe des Hauptbahnhofs. Heute Restaurant, Cafe, Bar, Club. Telliskivi tn 60A, Tallinn, Tel (+372) 680 1114, fhoone@gmail.com.

Controvento: Auch die Esten essen gern Italienisch. Und in dieser kuscheligen Trattoria geht es darum, Atmosphäre einzuatmen. Das Essen schmeckt aber auch! Unbedingt reservieren! Tallinn Vene 12, Tallinn, Tel (+372) 644 0470, info@controvento.ee, www.controvento.ee

Chocolaterie Pierre: Üppig im Barockstiel eingerichtet, locken hier süße Sünden. Genau richtig für eine gemütliche kurze Pause beim Stadtbummel. Vene tn 6, Tallinn, Tel (+372) 641 8061, www.pierre.ee

Alter ego: Tolles Essen, große Weinkarte und in minimalistischem Design. Das Restaurant passt perfekt ins architektonisch unbedingt sehenswerte Viertel Rotermanni, Roseni 8, Tallinn, Tel (+372) 54 56 0339, www.alterego.ee

Da kommt was in die Tüte

Baltika Quartier: Angesagtes Mode-Viertel rund um die Veerenni-Straße. Designerin Lilli Jahilo hat hier ihr Atelier.

Nu Nordik: Kleine, handgemachte Geschenke und Souvenirs sowie eine Riesenauswahl lokaler Produkte, Schmuck und Bücher lassen sich hier erwerben. Vabaduse väljak 8, Tallinn, Tel (+372) 644 9392, www.nunordik.ee

Eesti Käsitöö: Erste Adresse für hochwertige, klassische Wollsachen und Folkloristisches made in Estonia, Pikk 22, 10133 Tallinn, Tel (+372) 6314075, www.folkart.ee

Sehen und gesehen werden

Must Puudel: DER Treffpunkt vor allem für junge Esten. Am Wochenende legen in dem Café mit Retro-Ambiente DJs auf. Müürivahe 20, Tallinn, Tel (+372) 505 62 58.

Teletorn: Frisch renovierter Fernsehturm in Tallinn. Der perfekte Ort, um sich einen Überblick über Estlands Hauptstadt zu verschaffen. Kloostrimets 28a, Tallinn, (+372) 6238250, www.teletorn.ee

Seaplane Harbour: Ein Museum für die ganze Familie. Untergebracht im ehemaligen Hangar für Wasserflugzeuge, kann man hier sogar in ein echtes U-Boot klettern. Vesilennuki 6, Tallinn, Tel (+372) 620 0550; www.seaplaneharbour.com

 

 

 

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