Leipzig, Hypezig, die Stadt des Jahres

Man ist nicht alleine mit seinem Interesse für diese Stadt. Auf dem Weg von einem Veranstaltungsort des Bachfestes zum nächsten, von der Nikolaikirche zur Thomaskirche, begegnet man Gruppen, die sich Leipzig erklären lassen.
von  Hans-Herbert Holzamer
Nicht überall in Leipzig  ist der Aufschwung angekommen.
Nicht überall in Leipzig ist der Aufschwung angekommen. © Holzamer

Leipzig - Natürlich, die jüngste Geschichte Deutschlands spielte hier, die demokratische Revolution in der DDR hatte bis zum Fall der Berliner Mauer hier ihre ergreifendsten Momente. Und in den Blicken der Besucher, der Stadt- und der Festspielbesucher spürt man dieses: "Ach, du bist auch hier, auch du interessierst dich für diese Stadt." Man nickt, fühlt sich merkwürdig bestätigt in seiner Faszination für diese Stadt mit ihrer gigantische Fußgängerzone innerhalb des Ringes.

Wo sonst kann man Flanieren mit Entdecken verbinden? Was empfindet man? Ist es mehr als Faszination, ist es schon Liebe für diese Stadt? Sie ist die Stadt des Buches, "Leipzig liest" während der Buchmesse ist der Inbegriff des Literarischen in Deutschland, dort zu lesen, dort zu hören. Es ist in Worten nicht auszudrücken. Und während des Bachfestes öffnet sich Leipzig als Stadt der Musik. Natürlich Richard Wagner, und all die anderen: Johann Sebastian Bach, Felix Mendelssohn Bartholdy, Edvard Grieg, Gustav Mahler, Clara und Robert Schumann, Hanns Eisler. Diese Stadt ist so reich an Namen und Erbe, dass man zupacken möchte, um den Widerspruch zu beseitigen, die leeren Fensterhöhlen, aus denen wirtschaftliche Armut spricht, zu füllen und die letzten Ruinen wegzuräumen.

Aber wer jährlich wiederkommt, spürt den Aufbruch. Wer durch den Stadtteil Gohlis fährt, der könnte auch in Hamburg-Harvesterhude unterwegs sein. Natürlich ist Johann Sebastian Bach der Ausgangspunkt der deutschen Musik, das Fundament des Barock, die Lichtgestalt, an der sich bis heute die Komponisten des Landes und Europas zu orientieren haben. Und ihn ehrt das jährliche Bachfest, das in diesem Jahr unter dem Motto "Die wahre Art" den Bach-Sohn Carl Philipp Emanuel (1714–1788) anlässlich seines 300. Geburtstag in den Vordergrund stellte. Festivals zu Ehren Johann Sebastian Bachs gibt es in Leipzig bereits seit 1904.

Immer ging es auch darum, das Festival politisch zu vereinnahmen. Denn Leipzig ist eine politische Stadt, keine Stadt politischer Institutionen, nicht einmal in Sachsen ist Leipzig Landeshauptstadt, wohl aber Hauptstadt der Inspiration, hier ist politischer Geist lebendig, auch im Widerspruch. 

Leipzig heißt jetzt "Hypezig", titeln bereits einige Gazetten und sehen den Zeitgeist in Berlin auf gepackten Koffern sitzen, um nach Leipzig umzuziehen. Das ist vielleicht etwas zu voreilig, "Disneyland des Unperfekten" wurde die Stadt von der FAZ genannt, wegen dieses Miteinanders von klassischer bürgerlicher Kultur und illegalen Clubs. Studenten, die in Altbauwohnungen für ein Zimmer 300 Euro Warmmiete zahlen, sollen sich schon wohlfühlen. Selbstständige Kreative ebenso. Und die 30 000 Studenten machen die Stadt jung, die inzwischen wieder 530 000 Einwohner hat. Und die Touristen, die sich wirklich für die Stadt und nicht nur für ihre Kneipen und Geschäfte interessieren, schaffen eine heitere, aufgeweckte Atmosphäre.

Es gibt neben den klassischen Sehenswürdigkeiten wie dem Völkerschlachtdenkmal, den Kirchen, der Universität, dem Alten Rathaus, den großen Museen für die großen Söhne vieles, was man für sich entdecken kann, wenn man durch die Stadt läuft. Uns blieb Zeit fürs Museum in der "Runden Ecke". Es wird getragen von dem Bürgerkomitee Leipzig e.V. und zeigt in originalen Räumen der ehemaligen Bezirksverwaltung die Ausstellung „Stasi – Macht und Banalität“. Näher kann man dem Alltag des Ministeriums für Staatssicherheit nicht kommen.

Und es führt erneut zur Janusköpfigkeit der deutschen Nation, dem Nebeneinander von Größe und Abgrund, wie so oft in diesem Land. Der Faszination Leipzigs sollte man sich hingeben, vielleicht gerade solange noch nicht die Investoren die Stadt für sich vereinnahmt haben, solange die Ambivalenz zwischen Kultur und Szene, zwischen Gohlis und Ruinen besteht. Und Bach und Buch sind ohnehin jedes Jahr feste Termine.

Vielleicht gibt es sogar in diesem Jahr noch einen Grund nach Leipzig zu fahren: Die Ausstellung "Diktatur und Demokratie im Zeitalter der Extreme. Streiflichter auf die Geschichte Europas im 20. Jahrhundert". Sie wurde gerade eröffnet und dauert noch bis zum 30. Oktober.

 

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