Italien-Gefühl in jeder Kehre
(srt) Sie stellten sich als Vincenzo und Giuseppe vor, lachten herzhaft, schüttelten unsere Hände und beglückwünschten uns für unsere Entscheidung, Italia auf Rennrädern zu erkunden. Sie trugen leicht abgewetzte Wollpullis in Dunkelblau und Braun und dünne schwarze Stoffhosen. Vincenzo hatte schüttere und akkurat nach hinten gekämmte Haare, Giuseppe einen gepflegten Schnauzer. Sie waren 72 und 85 Jahre alt. Sie wurden unsere Freunde.
Und so beginnt die Geschichte übers Rennradfahren in Italiens Bergen nicht auf dem Rad, sondern in einer kleinen Bar an einem Plastiktisch zwischen Formel-1-Plakaten aus den 80er Jahren und einem in regelmäßigen Abständen klingelnden Spielautomaten. Sie beginnt mit zwei alten Männern, ein paar Gläsern Rotwein und dem von Vincenzo bedeutungsvoll ausgesprochenen Satz: "Rennradfahren gehört genauso wie der Rotwein zur italienischen Seele." Kann man unter diesen Umständen die Einladung zu einem Gläschen abschlagen? Allora. Es war noch nicht einmal Mittag. Der Tag lächelte.
Vincenzo und Giuseppe waren kurz nach uns in die Bar gekommen und hatten mit ihrem von Schrammen durchsetzten Fiat Cinquecento beinahe unsere an der Terrasse angelehnten Räder zerlegt. Sie hoben die Arme, lachten, ist ja nichts passiert, und gingen an uns vorbei zum Tresen. Sie flirteten mit der Bedienung, wendeten sich kurz zu uns, lachten wieder, und schon stand die Bedienung mit zwei Gläsern Rotwein vor uns und sagte, die Augen zu den beiden drehend: "Salute!"
Dabei wollten wir an diesem schönen Frühlingssonntag in dieser Bar nur zwei Mineralwasser und zwei Espressi trinken. Schließlich hatten wir am späten Vormittag bereits 50 Kilometer über eine einsame Passstraße "in den Beinen", wie es unter Rennradfahrern heißt. Wir waren morgens um acht in Riva gestartet, der Fahrtwind zog um die Beine und Arme. Dann wand sich die Straße an einem Berghang nach oben, uns wurde wärmer. Hinter uns verschwand der See im diesigen Morgenlicht.
Erst drei Gläser Rotwein, dann tausend Höhenmeter
Schon nach dem ersten Glas Rotwein fühlte sich die Bar an wie die Essenz Italiens. Vincenzo und Giuseppe klopften uns auf die Schultern, wollten alles ganz genau wissen: wo wir herkommen, wo wir hinfahren und warum wir Tedeschi hier in den Gardaseebergen, wo doch nur Einheimische "ciclismosustrada" betreiben, auf Rennrädern unterwegs sind? Beim zweiten Glas lernten wir, dass Italiener Motorradfahrer verachten, Cabriofahrer verhöhnen und Mountainbiker im selbsternannten "Mountainbike-Paradies Lago di Garda" allenfalls dulden. "Aber Rennradfahrer", sagte Guiseppe mit leuchtenden Augen, "die lieben wir."
Tatsächlich fühlt man sich als Radfahrer in Italien schnell wie ein Teil des Landes. Das Rad ist wie eine Eintrittskarte in einen Club, der aus einem Touristen einen Gleichgesinnten macht. Auf den Straßen grüßt man sich, auf den Dorfplätzen unterhält man sich, und wer mit einem Rad ratlos an einem Abzweig steht, der kann sicher sein, dass es nicht lange dauert, bis ein italienischer Rennradfahrer nachfragt, wohin man denn will.
Man hat ein gemeinsames Thema mit universalen Codes. Der Giro d'Italia gehört dazu, dessen Bergetappen immer wieder durch die Gardaseeberge führen - Monte Bondone und Passo Bordala sind Klassiker. Die erfolgreichen Radprofis gehören dazu: Fausto Coppi und Francesco Moser, Gilberto Simoni und Ivan Basso. Und natürlich gehören die Räder selbst dazu: Blitzende Geräte von De Rosa, Pinarello oder Colnago mit Campagnolo-Komponenten, die italienische Amateurradler - zumeist ausgemergelte Kerle mit rasierten Beinen, verspiegelten Sonnenbrillen und Trikots, deren futuristische Ästhetik sich nur Italienern erschließt - aus Überzeugung fahren.
Beim dritten Glas Rotwein kam uns der Rückweg zum See wieder in den Sinn. Und der unglückliche Umstand, dass dieser Weg über, wie wir bald schmerzlich erfahren sollten, einen fast tausend Meter hohen, 15 Kilometer langen und bis zu 15 Prozent steilen Pass führte. Mit einem Rest von Vernunft lehnten wir um zwei Uhr das vierte Glas Rotwein ab, verabschiedeten uns schweren Herzens und Kopfes bei Vincente und Giuseppe und stiegen wieder auf die Räder.
Hinter einem Kamm spitzelte der Gipfel des Monte Baldo hervor
Die ersten Kilometer verliefen noch flach, aber schon bald ging es steil bergauf. Die Sonne stach in die windstillen Serpentinen, Schatten gab es kaum, und unsere Pulsmesser zeigten beunruhigende Werte an. Gehören Rotwein und Rennradfahren wirklich zusammen? Wir litten von Kehre zu Kehre mehr, und als wir, glücklicherweise ohne bleibende gesundheitliche Schäden, endlich das Schild "Passo San Rocco" erreichten, sahen wir aus wie zwei Bluthochdruckpatienten. Sogar die beiden gelangweilt auf der Passhöhe stehenden Polizisten blickten uns besorgt hinterher.
Und dann, im Moment der größten körperlichen Erschöpfung, überraschte uns die Landschaft etwa so, wie uns das Treffen mit Vincenzo und Guiseppe überrascht hatte. Wir fuhren in ein Seitental, in das man für gewöhnlich nicht fährt, weil es keine direkte Verbindung zurück zum Gardasee gibt. Niemand war hier. Nicht mal in der Ortschaft Persone waren Personen. Nur Löwenzahn- und Fliederwiesen waren da, Bauernhäuser und Steinmauern. Im Talschluss legte sich eine zerfurchte Felswand wie eine große Halfpipe in die Landschaft, und in einer letzten Rechtskurve führte uns die Straße wieder zurück ins Sonnenlicht. Hinter einem Bergkamm spitzelte der schneebedeckte Gipfel des Monte Baldo hervor.
Am späten Nachmittag kamen wir in Gargnano am Westufer des Gardasees an. Der Duft der Bougainvilleen, Magnolien und Kaffee lag in der Luft, und die Feriengäste schlenderten an der Promenade entlang. Wir fühlten uns unter all den Touristen wie Fremdlinge. Dann legte die Fähre nach Riva an und wir stiegen zu. Wir saßen auf dem Oberdeck in weißen Plastikstühlen, streckten die müden Beine von uns und blickten auf die Uferpromenaden mit ihren Cafés und Sonnenterrassen, auf die alten Burgen und Häfen mit ihren Segelschiffen und Fischerbooten. Castelletto und Brenzone zogen vorbei, und dann ging die Sonne hinter jenem Bergkamm unter, den wir in dem verlassenen Seitental von der anderen Seite aus gesehen hatten. Irgendwo dort hinter den Bergen fahren Vincenzo und Giuseppe mit ihrem Fiat von Bar zu Bar.
Weitere Informationen:
Wer die beschriebene "Vier-Seen-Tour" nachfahren möchte, startet in Molina am Ledrosee, fährt dann über den Passo Ampola (optional kann man hier noch Straße hinauf zum Tremalzo radeln) nach Storo zum Idrosee bis Pieve und dann über den Passo di San Rocco zum Valvestino-See und schließlich nach Gargnano zurück an den Gardasse. Von dort fährt die Fähre nach Riva. Inklusive Tremalzo hat man am Ende 110 Kilometer und fast 2000 Höhenmeter zurückgelegt (ohne Tremalzo sind es 85 Kilometer und 1000 Höhenmeter).
Tipp: Vom Autor ist soeben das Buch "Rennradfahren am Gardasee. 16 ausgewählte Touren durch das Trentino" erschienen. Mit Straßenkarte und GPS-Daten, 16,90 Euro, Delius-Klasing-Verlag.
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