Hochsaison für die Ruhe
Krise? Im Dorf Anogia in den Bergen auf Kreta hört man davon nur in den Nachrichten.
Unter dem Schnauzer von Ioannis Xilouris baumelt eine jungfräuliche Zigarette. Feuer lehnt er mit einem Kopfschütteln ab. Das volle Glas Raki, das vor ihm auf dem Tisch steht, rührt er auch nicht an. Nur den Gästen in seiner Taverne schenkt er eine Runde nach. Dann fordert er sie mit einem freundlichen Blick und einem herzhaften „Yamas“ zum Trinken auf.
Ioannis ist 80 Jahre alt und lebt in Anogia, einem abgelegenen Dorf im Hochgebirge von Kreta. Die Sonne strahlt vom Himmel, Ioannis trägt graue Hosen und ein schwarzes Hemd über seinem mächtigen Bauch. Hinter dicken Brillengläsern leuchten wache Augen. Sieht er so aus, der krisengebeutelte Grieche im Jahr 2010? Hat ihm die Staatskrise die Lust am Raki vermiest und spart er am Tabak?
„Krise?“, wiederholt Ioannis auf Griechisch. „Davon habe ich in den Nachrichten gehört.“ Das Leben im Dorf hat sich für ihn nicht verändert. „Wir haben uns schon immer selber versorgt“, sagt der alte Mann und deutet auf die Oliven, Gurken und das Paximadi-Brot, das gerade ein flinkes junges Mädchen auf den Tisch gestellt hat. Alles ist aus eigener Herstellung. Auch der Tresterschnaps, der hier wunderbar sanft schmeckt.
Mit großer Geste greift Ioannis sich ans Herz
Mit Ioannis' Enthaltsamkeit muss es also etwas anderes auf sich haben. Mit einer großen Geste greift er sich an seine linke Brust. Es ist das Herz. Rauchen, Trinken und manch anderes hat ihm sein Doktor untersagt. Wenn er muss, kann sich Ioannis einschränken.
Einschränken muss sich das ganze Land. Doch nicht nur die explodierenden Staatsschulden haben Griechenland in die Schlagzeilen gebracht. Auch Bilder von gewaltsamen Demonstrationen in Athen gingen um die Welt. Generalstreiks legen das öffentliche Leben im Land der Götter lahm. Aber Griechenland ist nicht gleich Griechenland.
Im Sommer vergeht keine Woche ohne ein Fest
Das Dorf Anogia im Psiloritis-Massiv ist rund 350 Kilometer von Athen entfernt, dazwischen liegt das Mittelmeer. Und eine ganze Welt. 1944 hatten deutsche Truppen in Anogia ein Massaker angerichtet und das Dorf zerstört, danach wurde es mühsam wieder aufgebaut. Heute weiden auf den Hängen bis in die Nida-Hochebene hinein in den Sommermonaten Schafe und Ziegen. Die Menschen, die sich um sie kümmern, haben einen Ruf als gute Tänzer und Musiker. Einer von ihnen hat es zu besonders großem Ruhm gebracht, der 1980 verstorbene Sänger Nikos Xilouris. Der 80-jährige Ioannis ist mit ihm verwandt, schräg gegenüber von seiner Taverne am Dorfplatz erinnert ein kleines Museum an den Musiker.
Die Leute erzählen sich, dass jeder Mann in Anogia mehrere Waffen besitzt. Als Zeichen der Männlichkeit. Wer zur Mittagszeit durch die Straßen schlendert, ahnt davon nichts. Ältere Männer sitzen im Schatten der Kafenion, trinken Frappé und sprechen hie und da ein paar Sätze miteinander. Ein paar Häuserecken weiter arbeiten im Freien die Frauen, besticken Tischdecken und andere Stoffe. Dann findet man doch noch ein paar Männer bei der Arbeit. Es sind junge Burschen, die von ihren Lastern geschlachtetes Vieh, Gemüse und Obst verkaufen.
Das Geschäft läuft gut. In den Sommermonaten vergeht hier kaum eine Woche ohne ein großes Fest, und die bisweilen mehreren tausend Gäste wollen versorgt sein. Die typische Speise der Region ist ein würziges Lamm am Spieß mit dem Namen „Antichristo“. Auch Ioannis Xilouris serviert es in der Taverne, die mittlerweile seine Kinder betreiben. „Ohne Fleisch hat man bei uns nichts gegessen“, erklärt Xilouris und ein Nachbar, der am Nebentisch Bier und Raki trinkt, mischt sich ein. Dann dauert es, bis wieder ein anderer zu Wort kommt.
Urlauber, die nach Anogia kommen, suchen das Ursprüngliche.
Und sie finden es. Viele kommen in Ausflugsbussen, manche auf eigene Faust. Von Iraklion ist man in einer Stunde hier. Von Rethimnon dauert es ein wenig länger - ein schöner Tagesausflug. Ob es gerade mal mehr oder weniger Besucher sind, das beschäftigt Ioannis und seine Nachbarn nicht allzu sehr. Spätestens im November ist Schluss, der Winter gehört der Landwirtschaft und dem Handwerk. So wie überall auf Kreta.
Ein paar Kilometer von Anogia entfernt hat sich Jannis Papadakis seinen Lebenstraum vom Agrotourismus erfüllt. So wie an den Stränden auf Kreta die Hotelangebote im Luxussegment zunehmen, so wachsen in den Bergen die Angebote für erlebbares Dorfleben in familiärer Atmosphäre.
Auf dem Weg zu Papadakis vermischen sich in der Nachmittagssonne der Duft von Orangenbäumen, frischer Minze und Oregano. Aus einem Holzhaus am Hang dampft es, Zikaden zirpen. An der Einfahrt begrüßt Papadakis seine Gäste. 20 Jahre hatte er in Athen für Coca Cola gearbeitet, vor ein paar Jahren kehrte er in sein Heimatdorf Axos zurück. „Ich habe mich nach dem echten Leben gesehnt“, sagt der 59-Jährige.
Küchen-Chefin Stavroula zeigt, wie gefüllte Weinbergblätter zubereitet werden
Gemeinsam mit seiner Frau Fani eröffnete er vor fast zehn Jahren das Landhotel Enagron, in dem heute Mitglieder aus zehn Familien aus dem Nachbardorf arbeiten. Ein echtes Nachbarschaftsprojekt. Und auch die Gäste werden zum Teil des Ganzen: Vom gemeinsamen Kochen kretischer Köstlichkeiten bis zur Kräuterwanderung. Chefin in der Küche ist Stavroula, die Schwester des Hausherrn. Sie zeigt den Gästen, wie sich die typischen gefüllten Weinbergblätter zubereiten lassen und wie vielseitig Olivenöl einsetzbar ist. Fast alles, was serviert wird, stellt das Enagron-Team selbst her. „Wir essen gern gut und unseren Gästen geht es ebenso“, sagt Papadakis dazu nur.
Gutes Essen, Lebensfreude und Gastfreundschaft. Das lässt sich eben auch im Krisenjahr auf Kreta finden.
Vanessa Assmann
Service Kreta
Flüge nach Kreta: ab Memmingen (Tuifly), München (Germanwings, Aegean Airlines Tuifly), und Nürnberg (Air Berlin, Airvia, Tuifly) nach Iraklion ab ca. 150 Euro.
Unterkunft im Landhotel Enagron im Dorf Axos (zwölf Studios und Appartements zwischen 35 und 60 Quadratmetern: Übernachtung ohne Frühstück bei Zweierbelegung im Studio mit Kitchenette 34 Euro, mit Frühstück 44 Euro.
Ausflüge nach Anogia haben verschiedene Reiseveranstalter im Programm. Aus den Gebieten Amoudara, Agia Pelagia fährt Tui in das Psiloritis-Gebirge inklusive Anogia (Kosten 44 Euro). Anreise auch mit eigenem Auto unproblematisch, etwa eine Stunde ab Heraklion.
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