Guimaraes: Stadt der Talente

In der portugiesischen Kulturhauptstadt Guimaraes ist das Potenzial groß – vor allem in der Musik.
von  Robert B. Fishman aus Guimaraes

Guimaraes - In einer Seitengasse der Altstadt klingen Hammerschläge aus einer rußgeschwärzten winzigen Werkstatt. Gaspar Pintu do Correira schmiedet das Wappen seiner Heimatstadt: Es zeigt Portugals ersten König Afonso Henriques, den Gründer der Nation.

„Acqui nasceu Portugal“ („Hier wurde Portugal geboren“) steht in haushohen weißen Buchstaben an den Resten der Stadtmauer von Guimaraes. Die „Wiege der Nation“ thront auf einem Hügel über der Stadt: eine mächtige, mehrstöckige Festung aus dem 11. Jahrhundert mit einem 27 Meter hohen Bergfried. Nach seinem Sieg über die Mauren zwingt Afonso Henriques die spanische Krone 1143, die Unabhängigkeit seiner Grafschaft Portucale anzuerkennen. Die Burg wird Regierungssitz des neuen Staates.

Pintu do Correira freut sich über den neuen Ehrentitel seiner Heimatstadt: Europäische Kulturhauptstadt 2012. Wäre Guimaraes nicht Europäische Kulturhauptstadt, würde er wie in all den anderen Jahren vor allem die Wappen beliebter Fußballvereine oder andere Dekorationsgegenstände schmieden. „Reich wird man damit nicht“, erzählt der kräftige 67-Jährige. Portugal spart. Die neue Regierung hat dem Land ein gnadenloses Sparprogramm verordnet, die Mehrwertsteuer erhöht und die Gehälter im öffentlichen Dienst gekürzt. Viele Wohnungen in der Altstadt von Guimaraes stehen zum Verkauf. Dabei geht es der Stadt, verglichen mit dem restlichen Land, noch relativ gut.


2001 hatten die Vereinten Nationen die komplette Altstadt in die Liste des Weltkulturerbes aufgenommen: zwei- und dreistöckige Fassaden aus Granitstein, oft mit filigranen steinernen Figuren oder Kacheln verziert, an denen hölzerne und schmiedeeiserne Balkone kleben; arkadengesäumte, gepflasterte Plätze, romanische und gotische Kirchen. Kein Neubau stört das Ambiente aus dem 15.und 16. Jahrhundert. Autos müssen draußen bleiben: Die meisten Gassen sind zu schmal für neuzeitliche Fahrzeuge. In den zahlreichen Altstadtbars, Straßencafés und Restaurants sitzen vor allem Einheimische. Die vielen kleinen Geschäfte, Tante-Emma-Läden, Bäckereien und Konditoreien haben die Sanierung überstanden. Andenkenläden und Filialen großer Ketten gibt es kaum. Auch dank der beiden Hochschulen zählt sich das Städtchen zu den jüngsten Gemeinden Europas. Jeder Zweite ist unter 30. Viele Absolventen der Kunsthochschule und der Musikakademie machen sich als Grafiker, Musiker oder Künstler selbstständig.

Fatinha zum Beispiel – eine feingliedrige, schlanke Frau Mitte fünfzig – schlägt sich als Sängerin und Schauspielerin durchs Leben. Mit ihrem Vater, einem bekannten Profifußballer, der beim örtlichen Verein Vittoria Guimaraes anheuerte, kam sie vor vielen Jahren aus Brasilien nach Portugal. Fatinhas Mission: Sie will den Künstlern in der Stadt Gehör, Stimme und einen Markt verschaffen. Auf die Stadtverwaltung ist Fatinha nicht gut zu sprechen. „Die wissen gar nicht, was diese Stadt an Talenten hat“, schimpft sie.

Fatinha hat auf dem beliebtesten Platz, dem Largo da Oliveira, einen kleinen Künstlermarkt organisiert. An drei, vier Tischen bieten sie selbst gemachten Schmuck an: mit bunten Federn dekorierte Ohrringe, Broschen und anderes Kunsthandwerk. Der Verkauf läuft schleppend. Doch so schnell gibt Fatinha nicht auf. Mit sieben Weggefährten hat sie den Verein Arteprenha gegründet, über den sich junge Künstler gemeinsam vermarkten. Sie organisieren Ausstellungen und Konzerte. Das Potenzial ist groß, vor allem in der Musik. Kaum eine Stadt dieser Größe hat so viele Sänger und Bands aller Richtungen. Zum Proben und für den kreativen Austausch trifft man sich im Circulo de Arte y Recreio, dem „Kreis für Kunst und Erholung“. In einem bald 200 Jahre alten, schon etwas baufälligen Bürgerhaus wird geprobt und gespielt.

Um einen großen alten Holztisch sitzen zehn junge Leute beim Essen. Aus verschiedenen Schalen und Schälchen gibt es Salate, Reis, Kartoffeln und gebratenes Fleisch. Jeder hat etwas mitgebracht. Aus einer Laune heraus macht einer von ihnen mit dem Mund Geräusche, der Nächste packt seine Ukulele aus und spielt dazu, die anderen klopfen mit Gabeln und Löffeln den Takt auf Tellern und Töpfen: eine spontane Jam-Session.

Schlagzeuger Mario Goncalves, ein junger Mann mit gestutztem Bart und Piratentuch auf dem Kopf, hat sich im Erdgeschoss einen kleinen Übungsraum eingerichtet. Er spielt in der Hardrock-Band Let The Jam Roll, lebt von Auftritten und vom Unterrichten. Wie die meisten Künstler freut er sich auf das Kulturhauptstadtjahr, bleibt aber skeptisch: „Ich weiß auch nicht, was nach dem Kulturhauptstadtjahr von alldem bleiben wird.“

„Sehr viel“, verspricht die Kulturreferentin Francisca Abreu. Die Stadt werde 2013 eine andere sein. Tatsächlich wird überall gebaut, Plätze und Straßen werden saniert, in einer alten Fabrik entsteht ein Kultur- und Architekturzentrum mit Ateliers, Werkstätten und Probenräumen. Investieren will Abreu „in die Menschen“, die „Fähigkeiten und Visionen für ihre Zukunft entwickeln sollen“.


Anreise
Lufthansa und die portugiesische TAP fliegen täglich von Frankfurt nach Porto, Ryanair von Baden-Baden ebenfalls. Von Porto Sao Bento fahren stündlich Züge nach Guimaraes (Fahrtzeit circa 1Stunde und 20 Minuten). Von Lissabon dauert die Zugfahrt nach Guimaraes vier Stunden.

Übernachten
Pousada de Nossa Senhora da Oliveira, www.pousadas.pt
Hotel de Guimaraes: DZ ab 150 Euro, www.hotel-guimaraes.com

Auskunft
Portugiesisches Fremdenverkehrsamt, Telefon 030/2541060, www.visitportugal.com.

Essen & Trinken
Gut und günstig isst man rund um den Platz Largo da Oliveira im Zentrum der Altstadt. Die Bars haben neben warmen Leckereien auch sehr gute Salate. Feine lokale Küche in modernem Ambiente bietet das Historico by Papaboa, www.papaboa.pt. Empfehlenswert sind die Kuchen in den verschiedenen Pastelarias (Konditoreien) der Altstadt, etwa Nova Camir am Largo Toural 105.

Programm Kulturhauptstadt
Im November findet das Jazzfestival statt. Im Dezember folgt das jährliche Gnoc Gnoc Festival, bei dem Künstler ihre Wohnungen für Gäste öffnen: Ein stadtweites Kunst-Happening, das 2010 mehr als 10.000 Besucher anlockte.

Die vier Programmfelder im Kulturhauptstadtjahr sind Stadt, Denken, Kunst, Nachbarschaft. Zum Thema Stadt unter der Schirmherrschaft von Tom Fleming sollen ein neues Kultur-Navigationssystem, eine digitale Werkstatt und ein Unternehmerförderungsprogramm entstehen. Im Programmfeld Denken geht es um die Innovation sozialer und politischer Systeme. Schirmherr ist der Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa. Im Themengebiet Nachbarschaft helfen Künstler Dorfbewohnern aus der Umgebung von Guimaraes, ihre Lebensgeschichten in Bilder umzusetzen.

Eigens für das Kulturhauptstadtprogramm hat sich in Guimaraes das Orchester Fundaçao Orquestra Estudio neu gegründet. Daneben sind ein neues Tanzfestival, zahlreiche Ateliers für Gastkünstler sowie Workshops mit Filmemacher Jean-Luc Godard, Theaterregisseur Peter Brook und Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa geplant.

Am 16. Juni beginnt eine Reihe von Aufführungen des Stückes „Cesena“ der Tänzerin Anne Teresa De Keersmaeker und des Musikers Björn Schmelzer. In dem Tanztheaterstück tauschen Sänger und Tänzer die Rollen. Mit der Weltuntergangsparty „End of the World“ nimmt Guimaraes den von manchen Esoterikern angekündigten Weltuntergang am 21. Dezember auf die Schippe.
www.guimaraes2012.pt

Etat
Insgesamt plant das Komitee 600 kulturelle Veranstaltungen und 200 Workshops, zu denen mehr als 1,5 Millionen Besucher erwartet werden. Das Budget beläuft sich auf 100 Millionen Euro, von denen 25 Millionen für das Programm verwendet werden und 70 Millionen Euro für die Verbesserung der Infrastruktur vorgesehen sind.

merken
Nicht mehr merken
X

Sie haben den Inhalt der Merkliste hinzugefügt.