Eine Ode an den Ozean
Was zieht uns ans Meer? Ganz einfach: Wir wollen Sonne tanken bis zum Umfallen. Wollen uns zwischendurch im handwarmen Wasser abkühlen. Möchten Sand zwischen den Zehen spüren. Viel knusprig braune Haut vorzeigen. Viel knusprig braune Haut angucken. Und möglichst auch noch knusprig braune Haut anfassen. Aber wir wollen auch Salzluft schnuppern. Kilometerweite Strandspaziergänge unternehmen. Uns mal richtig vom Seewind durchpusten lassen. Jede Menge frischen Fisch und Krabben essen, wegen Jod und
Eiweiß und so.
Das Versprechen von Vergnügen und Gesundheit, das ist es, was uns ans Meer lockt. Und wenn dann die Sonne abends am anderen Ende des Wassers untergeht, so wie jetzt gleich in ein paar Minuten, und die Welt rotgolden zu verglühen scheint - dann lassen wir uns das auch noch gern gefallen: hübscher Kulissenzauber für den Sundowner. So verhält es sich mit uns und dem Meer. Ein guter Ort für Party und Relaxen. Alles andere, was hineingeheimnist wird, ist doch nur pure Spinnerei.
71 Prozent der Erdoberfläche besteht aus Wasser
Zugegeben, wenn wir am sehr frühen Morgen hinausblicken auf das graue, weite Wasser, oder nachts allein unter Sternen am Ufersaum entlangwandern, dann überkommt uns schon auch mal leichtes Befremden. Zu groß, zu viel, zu weit ist dieses Meer. 71 Prozent der Erdoberfläche bedeckt es, bei einer durchschnittlichen Tiefe von vier Kilometern. Eine enorme Menge Wasser. Und so gar nicht zu fassen, das Ganze.
Ein Berg ist erstiegen, wenn wir auf dem Gipfel stehen. Dann kommt der nächste, man kann sie abhaken. Häfen und Strände kann man auch abhaken. Mit dem Meer aber werden wir nie fertig. Dieses Meer bleibt eine ewige Herausforderung. Hinterm Horizont geht’s weiter. Und weiter. Und immer weiter. Eine Salzwasserwüste, die einen reizt: Das sehen wir uns doch mal an. Die anderen winken überfordert ab: na und. Es kann uns gestohlen bleiben, das Meer.
Und ja, mag sein: Eine leichte Unsicherheit schwingt immer mit, wenn wir uns am Meer befinden. Ein sanftes Vibrieren, eine unmerkliche Unruhe, fast unter der Schwelle der Wahrnehmung. Denn auf dieses Meer ist kein Verlass. Greifen einmal keine Haie im hüfthohen Wasser an, treiben sicher Quallen in die Bucht. Zieht die Strömung nicht gerade den Schwimmer unwiederbringlich aufs offene Meer, machen Blaualgen das Wasser zur widerlichen Suppe. Und vielleicht lauert er ja tatsächlich da draußen, der mörderische „Schwarm“, den Frank Schätzing auf die Welt losgelassen hat. An unseren Strandabschnitt kommt er natürlich nicht. Doch das glaubten wir auch von rebellischen Fluten. Bis wir das Wort „Tsunami“ nachschlagen mussten.
Ein Monster ist dieses Meer, das sich den Bauch vollgeschlagen hat mit Unsäglichem: Seeschlangen, Wasserleichen, Steinfischen, Plastiknetzen voller Plastikmüll, Bernsteinbrocken, Torpedos, Teer. Und jederzeit ist es bereit, das eine oder andere auszukotzen, Schätze oder Widerlichkeiten. Es ist zu fremd, dieses Meer. Zu sprunghaft. Zu undurchsichtig. Es gibt Gründe über Gründe, sich fernzuhalten von jeder Küste.
„Die See spiegelt uns unsere ganze Nichtigkeit zurück“
Und doch. Wir spüren: Es ist immer auch wieder tröstlich, ans Meer zurückzukehren. Hier sind wir, wo wir hingehören. Von hier kamen wir, hier ist die Wiege des Lebens. James Hamilton-Paterson, der große Chronist, der das Meer erkundet, erfahren und erspürt hat wie kein anderer, sagt das so: „Die Befriedigung, die manche Menschen empfinden, wenn sie über einen Strand wieder zurück ins Meer gehen, hat etwas von einer lange hinausgeschobenen Heimkunft. Aber zu spät. Wir haben unseren Ort verloren und wissen nicht mehr, wie man zurückkehrt.“ Das Schwappen der Wellen begleitet uns wie ein sanfter Herzschlag, der Kreislauf der Gezeiten ist der Kreislauf des Lebens. Das Meer erinnert uns, dass wir noch teilnehmen. Wenn das Meer nicht mehr atmet, weiß keiner mehr, dass es uns gab.
Ach, dieses Meer. Es hat so viel kommen und gehen sehen, sagen wir. Es ist ein Versprechen auf steten Wandel. Und zugleich unsere Hoffnung auf Ewigkeit. Wie unbedeutend wir sind, neben dem gleichgültigen, Millionen Jahre alten Tosen. „Die See spiegelt uns unsere ganze Nichtigkeit zurück“, klagt H.-P. Erhabenheit korrigiert Größenwahn.
Das Meer ist Grab, Müllkippe, Whirlpool, Bestie auf Abruf, Schatzkammer - und es hat uns menschliche Schwachköpfe jahrhundertelang dazu verführt, bibliothekenweise
sentimentales Zeug abzusondern. Warum kommt man nicht ohne Pathos aus, wenn man vom Meer redet? Wie recht er hat, der große alte Mann: „Der Ozean stellt seltsame Dinge mit uns an.“ La Paloma, oje.
Schluss damit. Noch einen Mojito! Gleich geht sie unter, die Sonne. Schickt wieder dieses schlierige, kupferne Leuchten herüber. Drapiert orange-changierende Schleier ins Schwarzblau. Hämmert Millionen von Goldplättchen aufs Wasser wie einen glitzernden Panzer.
Ach, Mensch. Es macht uns fertig, das Meer.