Die Zwei-Klassen-Reisegesellschaft

Hamburg - Tourismusstudie sieht „dramatische Spaltung“ – nur noch Reiche machen viel Ferien
Wenn in Deutschland Reisestudien vorgestellt werden, waren das jahrzehntelang reine Jubelveranstaltungen. Bei der gestrigen Präsentation der Tourismusanlayse, die die Hamburger "Stiftung für Zukunftsfragen" erstellt hat, mischte sich jedoch erstmals zweckoptimismus mit Nachdenklichkeit. Die AZ fasst die wichtigsten Ergebnisse zusammen:
Garten statt Große Antillen
Trotz Unterschieden galt das Reisen in Deutschland lange als klassenloses Vergnügen. Selbst, wer den Gürtel enger schnallen musste, sparte lieber beim Mittagessen als bei Mallorca. Das hat sich jetzt geändert. Die Forscher sehen „eine dramatische Spaltung der Gesellschaft“.
So leisteten sich im vergangenen Jahr vier Fünftel aller Beamten eine Reise (80 Prozent), bei den Arbeitern waren es dagegen nur etwa halb so viele (41 Prozent). Eine noch größere Kluft zeigt sich beim Einkommen: Die Besserverdienenden (Haushaltsnettoeinkommen über 3500 Euro) verreisten ganz selbstverständlich in die Ferien. Für drei Viertel von ihnen ist die jährliche Reise Standard, 40 Prozent dieser Gruppe gönnten sich 2009 sogar zwei und mehr Reisen.
Davon können die Geringverdienenden – mit einem Haushaltsnettoeinkommen unter 1000 Euro – nur träumen: Lediglich jeder Fünfte (20 Prozent) konnte sich einen Urlaub leisten. „Es hat sich eine Zwei-Klassen-Gesellschaft in Mobile und Immobilie herausgebildet“, sagt Tourismusexperte Ulrich Reinhardt. „Die einen machen sich mehr Gedanken um Reiseziele als um das Reisebudget, während die anderen immer öfter rechnen und sparen müssen und ihren Urlaub oftmals auf Balkonien oder in Bad Meingarten verbringen.“
Bayern verliert
Deutschland bleibt mit Abstand das beliebteste Urlaubsziel der Deutschen. Fast zwei von fünf Reisen (37 Prozent) fanden zwischen Flensburg und Garmisch-Partenkirchen statt. Vor allem der demografische Wandel stützt diese Entwicklung. Reinhardt: „Die Senioren von heute und morgen wollen mehr als Sonne, Spaß und Strand.“
Bei der Verteilung der Reiseströme büßten die beiden Spitzenreiter der Vergangenheit Anteile ein. So verringerte sich die Zahl der Bayernurlauber um mehrere Hunderttausend Menschen auf 8,1 Prozent (2008 waren es noch fast 9 Prozent). Ebenso ging der Reisestrom nach Mecklenburg-Vorpommern zurück. Gewinner im deutschen Verteilungskampf war im vergangenen Jahr Baden-Württemberg mit seinen Urlaubszielen rund um den Schwarzwald und den Bodensee.
So sparsam wie zuletzt 2004
1038 Euro lassen sich die Deutschen ihren Urlaub im Durchschnitt pro Person kosten. Damit fällt das Budget etwa auf den Stand von 2004 zurück. Ruheständler bleiben mit 14 Tagen am längsten vor Ort, das meiste Geld für den Urlaub geben kinderlose Paare aus (knapp 1200 Euro). Die relativ kurze Verweildauer von nur 10 Tagen bei den jungen Erwachsenen passt zu deren begrenztem Reisebudget von nur 790 Euro.
Türkei holt auf
Ungebrochen ist Spaniens Popularität. Mehr als jede achte Reise (13,2 Prozent) führte 2009 in das Territorium der Iberischen Halbinsel. Von solchen Gästezahlen ist das zweitplatzierte Italien (6,9 Prozent) weit entfernt, das zudem immer mehr die Konkurrenz der Türkei spürt. Letztere hat Österreich, Griechenland, Skandinavien und Frankreich deutlich hinter sich gelassen und kann 2010 mit weiteren Zuwächsen rechnen.
Verluste von etwa zehn Prozent verzeichnet dagegen der Fernreisemarkt. Am beliebtesten sind dabei noch Pauschalreisedestinationen in Nordafrika wie Ägypten, Tunesien und Marokko sowie Ziele in den USA. Asien wartet dagegen weiter auf den touristischen Durchbruch. So kann der gesamte ferne Osten mit 1,5 Prozent weniger deutsche Urlauber für sich begeistern als die Schweiz ganz allein.
Timo Lokoschat