Die Seeräuberinsel

Die Isla Tabarca war ein Unterschlupf für Seeräuber. Heute lockt das Eiland vor allem Tagestouristen. Dabei ist es am Abend besonders schön.  
von  Helge Sobik
Auch bei den Spaniern vom Festland ein beliebtes Ausflugsziel: die Isla Tabarca.
Auch bei den Spaniern vom Festland ein beliebtes Ausflugsziel: die Isla Tabarca. © Sobik

Im Frühjahr spielen die Jungs noch Fußball in den Gassen zwischen den niedrigen Quaderhäuschen, und die Mädchen radeln hindurch. Anfang Juni sitzen die Alten noch auf wackeligen Holzstühlchen vor ihren blau oder grün getünchten Haustüren auf der Insel Tabarca. Danach sind sie alle verschwunden, einen Sommer lang bei Tag so unsichtbar wie der Mond — im Juli, im August, den halben September wie vom Erdboden verschluckt. Erst spät am Abend kommen sie wieder hervor und erobern durch bloße Präsenz ihre Insel für die Stunden der Nacht zurück: die Strände, die Klippenküsten, die Agaven, die in prächtigem Rot und Orange blühenden Hartlaubgewächse entlang der Küsten. Und ab Mitte September ist endlich wieder alles wie im Frühjahr. Im Sommer aber, während der drei Monate der Saison, ist tagsüber zu viel los auf Tabarca, zu viel Andrang auf die kleine Seefahrer- und Fischerinsel elf Seemeilen vor der spanischen Mittelmeer- Küstenstadt Alicante — Hochsaison auf dem einstigen Pirateneiland, das heute vor allem von den Tagesbesuchern lebt. Erst wenn das letzte Ausflugsboot zurück zum Festland — nach Santa Pola, nach Guadamar, in den Stadthafen von Alicante oder nach Campello — wieder abgelegt hat und nur noch die Gäste der weniger als 20 Zimmer in zwei kleinen Hotels in den Straßen unterwegs sind, dann kommen auch die Einheimischen wieder hervor, öffnen sich plötzlich Holztüren zu lauschigen Innenhöfen.

Erst treten die Kinder der Tabarcenos wieder heraus und bringen die Fahrräder und Fußbälle mit, dann Eltern und Großeltern. Nur Pensionäre und Kinder haben dann Zeit, die wiedergefundene Feierabendruhe zu genießen. Denn die meisten anderen sind zu geschafft dafür. Sie mussten den Tag über arbeiten, in den Restaurantküchen schuften, im Akkord kellnern, Boote fahren, Eis verkaufen. Denn in jenen drei Monaten, wenn das Geschäft brummt, müssen sie das Geld fürs ganze Jahr verdienen. Es ist dann, als ob alles Mobiliar der Insel in den Straßen steht, jeder Tisch, jeder Stuhl, jeder Sonnenschirm. Die sonst so kleinen Restaurants wuchern auf Straßen und Plätzen. Jedes Stück Stellfläche ist kostbar — und begehrt, wenn die vielen Badegäste der Playa Grande ihre Laken im Sand verlassen und zum Mittagessen herbeiströmen. Eisgekühlte Cola oder Bier gibt es dann. Oder Alicantiner Wein. Und dazu meistens gegrillten Fisch — fangfrische Dorade oder Rotbarbe zum Beispiel. Oder in seiner eigenen Tinte gegarten Octopus. Außerhalb des Sommers aber gibt es eindeutig zu viel Gestühl auf der Insel, die gerade mal 1800 Meter in der Länge und maximal 400 Meter in der Breite misst. Salvador Diaz erinnert sich nicht mehr, wie oft er schon hergekommen ist. Er hat längst aufgehört zu zählen. Der stämmige kleine Mann mit der sonnengegerbten Gesichtshaut ist Berufspendler im wörtlichsten Sinn. An manchen Sommertagen schaut er gleich viermal vorbei. Seit über 40 Jahren fährt er auf Ausflugsbooten, erst als Matrose, inzwischen längst als Kapitän. Auf See kennt er in seinem Fahrtgebiet jede Untiefe, an Land auf Tabarca jeden Kieselstein. „Hier auf dem Wasser bin ich zu Hause. Es ist mein Wohnzimmer“, sagt er. „Die Insel ist mein Esszimmer, auch mein Garten. Da mache ich Mittagspause, da ruhe ich aus. Ich freue mich jedes Mal, wenn ihr Leuchtturm näher rückt, wenn die quadratische Festung, die mal Gefängnis war, in den Blick gerät.“ Sein Schlafzimmer aber ist Tabarca nicht. „Zu viel Einsamkeit, sobald die Tagesbesucher weg sind“, sagt er. „Zu still für mich.“ Er wohnt im elf Seemeilen entfernten Alicante.

Viele Einheimische glauben, Nachfahren der Piraten zu sein

Es gibt andere, die extra bleiben, um die Stille dieser Abende zu erleben, um die Alten ihre Holzstühlchen vor die Türen stellen und die Kinder in den Straßen wieder Fußball spielen zu sehen oder Abendandacht in der kleinen Inselkirche Iglesia San-Pedroy- Paolo zu halten. Und in aller Ruhe mit Meerblick den Fisch zu essen, wenn die Kellner plötzlich wieder Zeit haben - und auf Anhieb ein Platz zu bekommen war. Die paar Zimmer auf Tabarca sind deshalb schnell ausgebucht: weil es sich gut anfühlt, plötzlich für ein, zwei Nächte dazuzugehören und den Wandel der Insel mit den zwei Gesichtern aus der Nähe zu erleben. Dennoch lassen sich auch bei Tag in der höchsten Hochsaison noch stille Winkel finden, wo es sich in Ruhe sitzen, schauen und nachdenken lässt: mit den Beinen baumelnd auf der Festungsmauer an der Westküste zum Beispiel. Oder im kleinen Kirchgarten. Und auf dem unbesiedelten Nordzipfel jenseits der Strände, wo der Leuchtturm als Ausrufezeichen in den Himmel ragt und die Festung gerade restauriert wird. Hier lässt es sich im Grünen picknicken, und das passende Konzert dazu spielen die Wellen, die ein paar Meter entfernt an den Felsen zerbrechen. Und aus der Ferne trägt der warme Levante-Wind Zeilen aus irgendeinem Song von Julio Iglesias herüber, der in den Boxen einer Bar eingesperrt zu sein scheint und deren Terrasse von dort aus mit Schmachtschlagern beschallt. Jahrhundertelang war das Inselchen offiziell unbewohnt und inoffiziell ein Piraten- Unterschlupf in strategisch idealer Lage so knapp vor der spanischen Festlandküste. Nur etwa 30 Menschen leben heute ganzjährig auf Tabarca, über 300 sind es im Sommer. Und manch einer behauptet augenzwinkernd, noch von den in der Mitte des 18. Jahrhunderts vertriebenen Piraten abzustammen. Er weiß, dass so ein Spruch gut ankommt — und dass sowieso nicht mal er selber sicher sein kann, ob etwas dran ist.


Anreise
Alicante wird ab München von Air Berlin (www.airberlin.com) direkt angeflogen. Tickets kosten ab etwa 100 Euro pro Strecke. Im Sommer mehrmals täglich, in der Nebensaison mehrmals pro Woche von Alicante, El Campello, Santa Pola und Guadamar mit Ausflugsschiffen z. B. der Reederei Kon-Tiki (www. cruceroskontiki.com) nach Tabarca — je nach Entfernung zwischen 11 und 18 Euro für die Rückfahrkarte.

Unterkunft
Übernachtung im Inselhotel Casa La Trancada (www.latrancada.com) ab 96 Euro, im Hotel Boutique Isla de Tabarca (www.hoteltabarca.es) ab 110 Euro fürs Doppelzimmer.

Allgemeine Informationen
Spanisches Fremdenverkehrsamt, Schubertstr. 10, 80336 München, Telefon 089 / 53 07 46 11, www.spain.info.

Buchtipp
Von Helge Sobik, dem Autor dieses Beitrags, ist der Band „Der Mann, der mit den Gambas zaubert — funkelnde Costa Blanca“ erschienen (Picus Verlag, 14,90 Euro).

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