Der Chur-Schatten

Die Hauptstadt von Graubünden konkurriert mit dem Ruhm von St. Moritz – dabei bietet Chur echtes Großstadtleben auf kleinstem Raum
von  Abendzeitung
Markt in Chur
Markt in Chur © srt

Chur - Die Hauptstadt von Graubünden konkurriert mit dem Ruhm von St. Moritz – dabei bietet Chur echtes Großstadtleben auf kleinstem Raum

„Den Bond hätten wir gern hier gehabt“, sagt Michael Meier seufzend. Doch es stellte sich heraus: Die Gassen in Chur sind zu eng für rasante Kamerafahrten. Jetzt also spielt ein Teil des neuen Bond in Bregenz am Bodensee. Und Chur, die älteste Stadt der Schweiz und ihr Kurdirektor Michael Meier müssen weiter um mehr globale Aufmerksamkeit kämpfen. Dabei hat die 35 000-Einwohner-Stadt alles, was eine Metropole ausmacht: ein Nachtleben mit unzähligen Kneipen, Shopping von Kunst bis Käse, berühmte und zugleich verkannte Söhne und Töchter der Stadt, Museen mit mythischen Werken und eine kleine Drogenszene am Bahnhof. Aber Chur ist immer im Schatten – von St. Moritz, von Arosa, von Klosters, den legendären Skigebieten Graubündens. Dabei ist die Hauptstadt des Kantons erdiger Kontrapunkt zum Glamour-Overkill

Man glaubt es erst nicht - aber Chur hat ein echtes Nachtleben

In „Toms Beerbox“ reihen sich hunderte Bierflaschen aus locker 20 verschiedenen Ländern aneinander: Augustiner aus München, Foster's aus Australien – grinsend steht eine Mittzwanzigerin mit Ballonmütze vor den Kühlschränken. „Was darf's sein?“ Auf Sofas lümmeln Junge und Mitteljunge und im Fenster sind drei Löcher: Eins für den Kopf, zwei für die Hände: zum Rausstrecken, um eine zu rauchen. Das strikte Rauchverbot beachtet jeder in den vielen Kneipen der Altstadt. Selbst drüben, im „Schall und Rauch“, stehen die Nachtschwärmer vor der Tür, während sich ihre nikotinfreien Freunde drin durch die Bier- und Cocktailkarte trinken. Am nächsten Morgen ist der Kopf schwer. Ist das nicht ein riesiger Joint? In der Bahnhofspassage liegt tatsächlich im Büchertisch vor einem Buchladen eine große, zylindrische Zigarette. Vermutlich hat die jemand rasch hier hingeworfen, weil die Polizei nahte. Ein paar hundert Meter weiter dröhnt in der Poststrasse aus dem dritten Stock laute Musik. Die Jungen drängen aus den überidyllischen Tälern des Bergkantons nach Chur, sie ziehen punkige Klamotten an, schminken sich fingerdick und machen aus der beschaulichen Kleinstadt eine Metropole.

Churs modernes Museum: Magische Bilder von magischen Landschaften

So erklärt sich auch, dass uns Chur-Direktor Meier mittags nur fragt: „Mit dem Nachtleben wisst Ihr jetzt Bescheid?“ Und die Chefin des Hotel Freieck im Zentrum ist besorgt, ob wir auch gut geschlafen haben trotz des Lärms. Erstens waren wir am Partylärm selbst beteiligt und zweitens sind die Betten wohl nirgendwo besser als in Chur. Tatsache. Womit allerdings auch eine gewisse Verschlafenheit zusammenhängt. Große Künstler stammen aus Chur: Angelika Kauffmann, die wichtigste Malerin des Rokoko und von Johann Wolfgang von Goethe hoch geschätzt, wurde hier geboren. Ihr Geburtshaus im Zentrum ist verschlossen. Oder H. R. Giger, der surrealistische Künstler mit dem netten Vornamen Hansruedi, der für den Look des Films „Alien“ einen Oscar gewonnen hat. In Chur gibt's eine Bar, die er gestaltet hat – „aber die ist ein bisschen außerhalb“ sagt Tourismus-Chef Meier fast entschuldigend. Dagegen im Zentrum, gleich neben dem imposanten Hauptquartier der Rhätischen Bahn, wartet im Bündner Kunstmuseum ein Rausch aus Farben und Bergfaszination: Ernst Ludwig Kirchner, Ferdinand Hodler, Augusto Giacometti. Magische Bilder von magischen Landschaften, präsentiert in einem imposanten Villenbau des 19. Jahrhunderts.

Shopping in Geschäften wie dem Geschäfte wie dem „Kuchilada“

Jetzt ein Kapitel aus dem Zauberberg lesen! Aber dicke Bücher müssen warten in Chur, samstags lockt bis in den Spätherbst der Markt mit lokalen Spezialitäten, am letzten Novemberwochenende der Weihnachtsmarkt. Das Shopping-Angebot ist fein und breit gefächert: Geschäfte wie der „Kuchilada“ mit edlen Küchenaccessoires, auffallend viele Goldschmiedeateliers und das Café Maron am Bahnhof mit seiner sensationellen Bündner Torte verführen dazu, die Kreditkarte öfter als geplant zu zücken. Sonntagnacht, 22 Uhr, ein Abendessen mit Hirschpfeffer und Älpler-Makkaroni im Lokal Gansplatz liegt hinter uns, wir schlendern durch die Gassen zurück zum Hotel. Ein drahtiger Mann fährt auf dem Fahrrad an uns vorbei. Das ist doch Christian Boner. Er hat sich kürzlich abgestrampelt auf 5000 Metern Höhe in Indien mit dem Mountainbike. Er ist sehr sportlich und wirkt ruhig und besonnen. Boner ist der Stadtpräsident, der erste Mann der Mini-Metropole. Wer braucht da noch einen Bond.

Katharina Rieger

Großer Weihnachtsmarkt am 28. und 29. 11. in der Altstadt, weitere Infos unter www.churtourismus.ch

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