An dünnem Eis nach oben klettern
Tannheimer Tal - „Weg! Schnell weg!“, schreit Martin Schöll. Wir stehen am Fuß des Enge-Wasserfalls im österreichischen Tannheimer Tal, und 70 Meter über uns hat gerade ein Naturschauspiel begonnen, das Bergfreunde wohl eher als Horrorszenario bezeichnen. Der Wasserfall, mit einer Höhe von knapp 90 Metern wohl einer der höchsten im gesamten Tal, bricht gerade in sich zusammen. Teilweise zumindest. Am Fuß des Falls verstaut gerade ein halbes Dutzend Eiskletterer Pickel, Seile und Steigeisen, und jetzt rennen sie - von der Wand weg. Gerade noch rechtzeitig, bevor melonengroße Eisstücke die Flanke hinunterprasseln und den Wandfuß in einen Schuttberg verwandeln. Sekunden später folgt eine Druckwelle, die den aufgewirbelten Reif aus der Luft wischt. Danach ist wieder alles so friedlich wie zuvor. Nicht einmal mit einem Knacken hatte die Eiskaskade ihren Zusammenbruch angekündigt.
Eisklettern gilt als eine der Königsdisziplinen im alpinen Sport. Nach Schätzungen des Deutschen Alpenvereins betreiben nur etwa 45 000 Deutsche das Eiskraxeln. Kein Wunder, denn wohl kaum eine andere Bergsportart ist ähnlich materialaufwendig, anstrengend und technisch anspruchsvoll. Kaum ein Untergrund ist so schwierig zu besteigen und so unberechenbar wie Eis. Anders als etwa Fels verändert es seine Eigenschaften ständig. Sind die Temperaturen zu niedrig, wird es spröde. Wenn man mit dem Pickel draufschlägt, um sich in der Wand zu verkrallen, platzen dann ganze Platten ab. Steigt das Thermometer zu hoch, wird es sulzig und gibt keinen Halt. Manchmal bilden sich unter einer solide aussehenden Eisdecke Hohlräume oder Wassertaschen, die die Struktur des gefrorenen Wasserfalls unterspülen. Wer sich an so einer Stelle mit einer Eisschraube sichert, läuft Gefahr, bei einem Sturz nicht aufgefangen zu werden. „Und ein Sturz“, sagt Bergführer Schöll, „ist beim Eisklettern
sowieso keine Option.“
Vorsicht mit den Schneidezähnen!
Der Mittdreißiger weiß, von was er spricht. Die beiden Eisgeräte - so nennt man die mit Zacken bewehrten Pickel, mit denen sich Profis wie eine Nähmaschine die Wand nach oben nageln -, werden bei unkontrollierten Stürzen zu scharfkantigen Gefahrenquellen. Genauso wie die gezackten Steigeisen, die ein Abrutschen der Füße im Eis verhindern sollen. Unachtsame Anfänger hauen sich beim Herauspfriemeln des Pickels selbigen gerne mal aus Versehen auf die Schneidezähne, und wer einen Nachmittag lang im vertikalen Eis steht und nicht peinlich genau darauf achtet, Waden und Sehnen zu entlasten, wacht am nächsten Morgen mit einem mörderischen Muskelkater auf.
Trotzdem ist Eisklettern auch eine der schönsten Disziplinen in den Alpen. Selten bekommt man die Natur so hautnah zu spüren, selten dringt man in Welten vor, die Normalmenschen sonst verborgen bleiben. Es gibt Eiskletterer, die an überdimensionierten Zapfen hochsteigen, als seien sie am kalten Eis festgeklebt. Und es gibt Bilder, die Profis zeigen, die sich nach einer langen Route an den letzten Strahlen der rot untergehenden Sonne am Scheitelpunkt des Falls aufwärmen. Natur pur.
„Immer mindestens drei Punkte fest ins Eis schlagen“
An diesem Morgen im Tannheimer Tal bleiben solche Höhepunkte aber rar. Es ist diesig. Zu warm, als dass die Kälte den Nebel aus der Luft friert. Der Enge-Wasserfall ist Anfängerterrain. Wie ein hingeworfenes Laken liegt er vor uns. Die Neigung liegt irgendwo zwischen 30 Grad und kleinen, leicht überhängenden Passagen. Daher komme ich auch zügig nach oben voran. Steigeisen setzen, Eisgeräte oben einschlagen und sich hochziehen lautet der ewige Rhythmus. „Immer mindestens drei Punkte fest ins Eis schlagen“, sagt Schöll. Zwei-, dreimal steigen wir diesen Morgen hinauf und seilen uns wieder ab. Danach beschließen wir, wegen der Wärme abzubrechen. Gerade noch rechtzeitig, bevor der Eisschutt von oben herunterdonnert. Glück gehabt!
Das Tannheimer Tal ist einer der wenigen Orte direkt im deutsch-österreichischen Grenzgebiet, an denen Eisklettern in normalen Wintern an mehreren Stellen möglich ist. In den Schluchten und Seitentälern gibt es einige Eispassagen, die allerdings nicht mit den großen Routen der Alpen zu vergleichen sind. Wer mehr will, muss hinunter ins Inntal und an der gegenüberliegenden Seite in einem der Täler verschwinden. Pitztal, Stubaital und Sellrain lauten hier die großen Namen. Dort werden die Klettertouristen auch von spezialisierten Führern unter die Fittiche genommen. Von den Tourismusverbänden tatkräftig unterstützt haben sich hier wahre Eiskletterarenen etabliert, die meist für jeden etwas bieten. Anfänger können sich hier etwa an künstlichen Eiszapfen nach oben tasten. Oben, in den Gletscherregionen, konserviert die Natur selbst das Eis wie in einem Kühlschrank. Als Gegengift für gelangweilte Großstadtalpinisten, die am Wochenende mal was erleben wollen, taugen viele dieser Routen aber nicht. Das erkennt man schon an ihren Namen. „Männer ohne Nerven“ heißt einer der Klassiker im Stubaital.
Pitztal: Lange, auch schwere Routen (die nicht für Laien geeignet sind) und eine Eishöhle im Pitztalgletscher, Infos zu Kursen: www.bergfuehrerbuero-pitztal.at
Stubaital und Sellraintal: Vielfältiges Angebot, unter anderem die hängenden Eis-Gärten in Lüsens. Infos: www.bergsteigen-stubaital.at
Tannheimer Tal: Mehrere Naturwasserfälle, nur bei kalter Witterung. Infos: www.tannheimertal.com
Hohe Tauern: Alpinzentrum Rudolfshütte, vereiste Staumauer am Weißsee, auch für Anfänger geeignet, Anreise über Uttendorf. Infos: www.alpinzentrum-rudolfshuette.at
Brandnertal, Vorarlberg: mehrere Eisfälle unterschiedlicher Schwierigkeit. Anbieter: Alpin Live, Tel. +43 (0) 664 / 3 41 62 43 oder: Bergaktiv Brandnertal, Tel. +43 (0) 664 / 88 51 12 71
Averstal bei Davos: Boulder- und Eiskletterhochburg mit großer Routenauswahl. Infos unter: www.gemeindeavers.ch
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