Wie viel braucht ein Kind?
Ein fünffacher Vater aus Bayern hatte geklagt: „Wir sind nicht faul“, sagt Michael Kaiser. Das Urteil könnte Hartz IV revolutionieren
Wenn das Bundesverfassungsgericht heute sein Urteil über die Hartz-IV-Regelsätze von Kindern spricht, wird ein Mann nicht im Gerichtsaal sitzen: der Kläger Michael Kaiser aus Scheidegg bei Lindau. Kaiser hat keine Zeit. Der ehemalige Hartz-IV-Empfänger hat sich vor kurzem mit einer Firma für Skiwachs selbstständig gemacht und hat am Wochenende Termine. Mit Kaiser klagen außerdem ein Familienvater aus Dortmund und einer aus Hessen. Das Bundesverfassungsgericht wird grundsätzlich entscheiden, ob die Berechnung der Regelsätze für Kinder rechtens sind.
Der gelernte Elektriker Kaiser hat fünf Kinder. Mit den vier jüngeren war er wegen eines Hausmeisterjobs ins Allgäu gezogen. 1999 hatte Kaiser aber einen Bandscheibenvorfall und verlor seinen Job. Seine Söhne Sebastian, Maximilian und Patrick sind leidenschaftliche Skispringer. Schule, Training, Hausaufgaben – so sah der Alltag von Kaisers Kindern aus. Doch Michael Kaiser weiß, was viele von Hartz-IV-Empfängern halten. „Wir sind nicht faul, rauchen oder sitzen den ganzen Tag auf dem Sofa.“
Kaiser konnte die Hobbys seiner Kinder nicht mehr zahlen. „Schon das Skiwachs war ein wahnsinniger Kostenfaktor“, sagt Kaiser. Der Regelsatz von damals 207 Euro pro Kind hat vorne und hinten nicht gereicht. „Kinder brauchen eine vernünftige Freizeitbeschäftigung, damit sie nicht auf der Straße herumhängen“, sagt Kaiser. „Aber wie sollen Eltern ihre Kinder fördern, wenn beim Hartz-IV-Satz nicht einmal Geld für Bücher oder Schulausflüge vorgesehen ist?“ Nicht einmal für die Schulabschlussfahrt gab es von der Arge Geld.
Zusammen mit der Gewerkschaft Verdi reichte er vor fünf Jahren die Klage für den Musterprozess ein. „Wir verlangen keinen Luxus, sondern nur das, was für die Entwicklung des Kindes notwendig ist“, sagt sein Anwalt Peter Schmitz. Dazu gehörten Bücher, bei Bedarf auch Nachhilfe, eine gewisse sportliche Entwicklung und soziale Kontakte, für die auch Transportkosten berücksichtigt werden müssten. „Es geht um gleiche Startchancen. Hier muss man zumindest für eine Grundausstattung sorgen“, sagt der Berliner Anwalt.
Der Hartz-IV-Regelsatz für Erwachsene liegt zurzeit bei 359 Euro monatlich (siehe Grafik). Das Geld, das Kinder bekommen, wird derzeit nicht nach deren Bedarf ausgerechnet, sondern berechnet sich automatisch: Für Kinder unter sechs Jahren gibt es 60 Prozent des Regelsatzes, also 215 Euro, Kinder unter 14 bekommen, 70 Prozent (251), ab 14 gibt es 80 Prozent, also 287 Euro. Das Kindergeld wird mit HartzIV verrechnet, für Schüler gibt es allerdings noch 100 Euro extra.
Der Vater der hessischen Kläger-Familie ist zugleich Vorsitzender des Sozialvereins ARCA Soziales Netzwerk. „Hartz IV bedeutet, dass man am Hungertuch nagt“, sagt Thomas Kallay. „Es ist traurig und es tut weh.“ Rechtsanwalt Martin Reucher, der den 57-jährigen Dortmunder Familienvater vertritt, nennt die Berechnungen für Hartz IV „völlig willkürlich“. So würden zum Beispiel für Windeln acht Euro pro Monat eingerechnet. „Das reicht eine Woche, aber nicht einen Monat.“ Für Kinder zwischen sechs und 13 Jahren sieht der Staat zurzeit 3,10 Euro am Tag für Essen vor.
Die Richter werden nun prüfen müssen, ob die Regelsätze das „Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums“ ermöglichen. Wohlfahrtsverbände sagen nein. Andererseits mehren sich die Kritiken, dass manche arbeitende Familienväter kaum besser wegkämen als mit Hartz IV (siehe Bericht rechts).
Für den fünffachen Vater Michael Kaiser spielt das Urteil, das heute gefällt wird, keine Rolle mehr: Er ist selbstständig, seine Kinder machen eine Ausbildung, der kleinste geht noch zur Schule. Dennoch zieht Kaiser die Klage durch. „Es geht nicht um mich, sondern ums Prinzip.“ ta