Unkluger Protest
Wird Deutschland judenfeindlicher? Was soll dann ein Boykott? - Frank Müller, AZ-Aktuell-Chef, über den Eklat beim Holocaust-Gedenken
Ein Eklat ist ein Eklat, egal wie heikel das Terrain ist, auf dem er begangen wird.
Man mag verstehen und nachvollziehbar finden können, welche Gründe Charlotte Knobloch und ihren Zentralrat dazu bewogen haben, die Holocaust-Gedenkstunde des Bundestags zu boykottieren. Besonders klug aber war diese Aktion nicht.
Zwei Gründe führten die Spitzenvertreter der Juden für ihr Fernbleiben an: Man sei auf der Veranstaltung noch nie namentlich begrüßt worden. Und wolle zudem gegen die „fortschreitend um sich greifende Feindschaft gegen Juden“ in der Gesellschaft protestieren.
Punkt eins ist ein protokollarisches Problem, das sich mit einem Brief und zwei Telefonaten im Vorfeld vermutlich hätte lösen lassen.
Punkt zwei dagegen verweist auf einen Trend, der – wenn er stimmt – zwar Besorgnis erregt. Der aber dann ganz bestimmt eine andere Antwort verlangt als diese Form der Verweigerung.
Gedenkveranstaltungen wie die gestrige im Bundestag haben immer auch etwas Hilfloses: Sie versuchen, ein Ereignis wie den Holocaust in den Griff zu bekommen, das sich in seinem millionenfachen Grauen jeder Fassbarkeit widersetzt.
Darin liegt immer eine Gefahr: dass die gute Absicht zum Ritual erstarrt. Gottlob aber ist Deutschland sehr viel weiter, als es dieser vermeidbare Eklat glauben macht.
Der weit überwiegende Teil der Juden und Nichtjuden lebt geschichtsbewusst und trotzdem entspannt Seite an Seite. Das ist wichtiger als jeder Affront auf der politischen Bühne.