Schock-Studie: Erst mit 69 Jahren in Rente?
Eine Studie beschreibt, wie die Rente wieder sicher werden könnte. Die "Rente mit 69" ist ein Vorschlag - Schwarz-Gelb findet's gut
BOCHUM Es ist wohl die bitterste Studie, die es zum Thema „Rente“ in Deutschland gibt – und wohl auch eine der ehrlichsten: Das 68 Seiten starke Papier „Alterssicherung, Arbeitsmarktdynamik und neue Reformen: Wie das Rentensystem stabilisiert werden kann“ des Bochumer Professors Martin Werding. Die renommierte Bertelsmann-Stiftung hat sie an der Ruhr-Uni in Auftrag gegeben.
Die Studie beschäftigt sich mit der Entwicklung des Rentenniveaus und der Beitragssätze bis zum Jahr 2030 bzw. 2060. Mithilfe eines eigens entwickelten Computer-Modells kann Werding errechnen, wie sich die Rentenhöhe und die Beitragshöhe verändern, wenn sich politische, wirtschaftliche oder soziale Rahmenbedingungen ändern – falls sie sich denn ändern.
Die Ergebnisse sind düster. Denn Werding räumt zunächst einmal mit allen Renten-Wunschträumen auf, die Zeitgenossen auf einen einfachen oder gar schnellen Ausweg aus der Misere hoffen lassen.
Zum Beispiel den, dass eine erhöhte Produktivität oder stärkere Innovationen in Zukunft für höhere Renten sorgen könnten. Denn rechnerisch ist der Effekt minimal – selbst wenn ein Investitionsboom einsetzen würde, müssten sich die Rentner in 17 Jahren mit 45 statt derzeit 52 Prozent des durchschnittlichen Bruttoverdienstes begnügen. 2060 wären es nur noch 41Prozent. Und dass, obwohl die Beiträge der Jungen stetig steigen. Heuer sind es 18,9 Prozent vom Brutto, 2030 werden es nach Werdings Berechnungen schon 21,3 und 2060 dann 27,2 Prozent sein.
Die Hauptursache bleibt die Demografie
Denn das Sinken der Renten und das Steigen der Beiträge hat eine lang bekannte, aber unerklärlicherweise immer noch schwer vermittelbaren Grund: die Demografie – immer weniger Junge zahlen für immer mehr Alte. An diesem Grundeffekt lässt sich schwer etwas ändern. Oder wie es der Sozialwissenschaftler formuliert: „Die ungünstigen Perspektiven für die Entwicklung von Rentenniveau und Beitragssatz erweisen sich als äußerst robust gegenüber realistischen Variationen.“
Hier geht's zur AZ-Meinung zur Studie
Trotzdem weiß Werding Auswege aus der Misere, es sind radikale, schmerzhafte Vorschläge, es sind die neuen "Zehn Gebote" für eine Stabilisierung unseres Rentensystems. Man muss ihnen nicht zustimmen, aber man sollte sie kennen:
Erstes Gebot: Arbeitet bis 69!
Seit vergangenem Jahr erhöht sich sukzessive die Lebensarbeitszeit jedes Angestellten. Ab 2031 gehen wir erst mit 67 Jahren in Rente. Aber das reicht nicht, sagt Werding.
Für ihn ist „denkbar“, dass das Rentenalter weiter steigt – und zwar parallel zur Lebenserwartung. 2060 sollen die Deutschen dann erst mit 69 Jahren in Rente gehen – dies sollte „frühzeitig angekündigt und gesetzlich festgeschrieben werden“.
Wenn für die Geburtsjahrgänge 1965 und folgende der Renteneintritt um einen Monat herausgezögert wird, wäre die Rente mit 69 im Jahre 2058 – für die heute 23- und 24-Jährigen – Realität.
Das sieht übrigens auch die Bundesregierung so: Genau dieses wird im Abschlussbericht der Enquetekommission des Bundestags gefordert. Union und FDP haben dafür gestimmt, SPD, Grüne und Linke dagegen.
Zweites Gebot: Lasset alle einzahlen!
Werding schlägt vor, dass auch Beamte und Selbstständige in die Rentenkasse einzahlen. Zwar nicht die jetzigen Staatsdiener und Unternehmer, aber alle, die sich künftig entschließen, ein solcher zu werden. Dass er nicht die heutigen Beamten in die Rentenkasse zwingen kann und will, hat rechtliche Gründe.
Aber auch so wäre der Effekt ein durchschlagender. Statistisch gesehen ist dies der einzige Schritt, der dem demografischen Wandel zumindest eine gewisse Zeit Paroli bieten kann.
„Die Senkung des Rentenniveaus wird rasch gestoppt und sogar wieder leicht wettgemacht. Die Finanzierung der höheren Renten erfordert zugleich einen geringeren Beitragssatz“, schreibt Werding. Dieser positive Effekt würde etwa bis 2040 anhalten, der Bochumer Professor spricht von einer „Untertunnelung des demografischen Problems“.
Denn am Ende des Tunnels lauert ein Problem erneut: der steigende Beitragssatz, um die Renten der größer gewordenen Gruppe der Ex-Einzahler mit immer weniger Neuzugängen zu finanzieren.
Drittes Gebot: Gebet den Frauen Arbeit!
Die Zukunft der Rente ist weiblich. Wenn mehr Frauen arbeiten gehen, könnten die negativen Folgen des demografischen Wandels abgemildert werden.Zwar steigt der Anteil arbeitender Frauen bis 2030 weiter an, wirtschaftlich wünschenswert wäre es aber, wenn Frauen fast genau so oft arbeiten wie Männer.
Auch Werding stellt fest, dass junge Frauen „bereits heute über Qualifikationen verfügen, deren Niveau im Durchschnitt das der Männer erreicht oder sogar übersteigt“. Trotzdem sind sie am Arbeitsmarkt unterrepräsentiert, was er auf „andere Hindernisse“ schiebt.
Die liegen vor allem in der fehlenden Kinderbetreuung und in der nicht vorhandenen „Änderung von Verhaltensweisen bei der familiären Arbeitsteilung“. Wenn Papi also mal den Hausputz macht, kann das auch gut für die Rentenkasse sein.
Viertes Gebot: Früher in Rente kommt teuer!
Wer heute früher in Rente gehen will, kann dies unter bestimmten Bedingungen schon mit 63 Jahren tun. Wenn er seit seinem 22. Lebensjahr stets durchschnittlich verdient hätte, bekäme er aktuell eine Rente von 1151 Euro monatlich (würde er bis 67 durchhalten, wären es 1263 Euro).
Schon heute muss er für jedes Jahr, das er vorher in Rente geht, 3,6 Prozent Abschläge zahlen – unser Beispielrentner bekäme also nur noch 985 Euro im Monat. Werding stellt nun in den Raum, sich an anderen Ländern zu orientieren, die Abschläge von 5 bis 7 Prozent haben.
Dies sei „versicherungsmathematisch fair und belastungsneutral“ für die anderen Einzahler. Allerdings hieße das, dass der Beispielrentner nach heutigen Zahlen schlimmstenfalls nur noch 829 Euro im Monat bekommen würde – falls er überhaupt mit 63 in Rente gehen darf.
Fünftes Gebot: Lasset Einwanderer zu uns kommen!
„Eine erhöhte Netto-Zuwanderung dämpft den langfristigen Rückgang des Rentenniveaus ab und begrenzt den Anstieg des Beitragssatzes“, lautet die Grundbotschaft von Werding. Einen deutlichen Effekt hat die Zuwanderung aber nur, wenn sie stärker ist als heute – es wandern derzeit gut 100000 Menschen mehr nach Deutschland ein, als das Land verlassen.Früher waren es im Schnitt doppelt so viel.
Ohne stärkere Zuwanderung würde das Rentenniveau auf 39 Prozent fallen, die Beiträge lägen bei fast 29 Prozent. Verjüngt sich die Bevölkerung durch Zuwanderung, sind es auch noch niedrige 43 Prozent Rentenniveau bei 25 Prozent Rentenbeitrag. „Wirklich günstig lässt sich keine der hier projizierten Entwicklungen nennen“, bilanziert Werding trocken.
Sechstes Gebot: Bildet besser aus!
Wenn die Quantität der arbeitenden Personen zurückgeht, kann es helfen, die Qualität der Erwerbstätigen zu steigern. Bessere Qualifikationen sorgen dafür, dass mehr Geld in die Rentenkasse kommt.
Zwar sind die Deutschen im Schnitt gut ausgebildet, es gibt aber eine alarmierende Ausnahme: Fast jeder Fünfte verlässt die Schule ohne Abschluss. Das ist keine neue Entwicklung, aber die Zahl bleibt über Jahrzehnte konstant – eigentlich sollte sie sinken.
Wenn es gelingt, diese Zahl bis 2030 zu halbieren und die Zahl der Hochschulabsolventen zu verdoppeln, steigt das Rentenniveau leicht an – allerdings auch nur auf 42,5 Prozent im Jahr 2060. Ein zusätzlicher Effekt für die Rentenbeiträge träte ein, wenn man zusätzlich Zuwanderer qualifiziert. Denn in dieser Gruppe gibt es zwar mehr Hochschulabsolventen als bei Einheimischen. Aber nur die Hälfte verfügt über eine in Deutschland anerkannte Berufsausbildung.
Allerdings ist Werding hier pessimistisch: „Woher über einen Zeitraum von rund 50 Jahren eine entsprechende Zahl von Zuwanderern mit hohen Qualifikationen nach Deutschland kommen können, lässt sich aus heutiger Sicht nicht plausibel angeben."
Siebtes Gebot: Belohnt Kinderreichtum!
Neben der Verlängerung der Lebensarbeitszeit und den Kürzungen bei den Frührentnern ist dies der brisanteste Punkt der Studie. Denn Werding kombiniert die Belohnung von Kinderreichtum mit der Bestrafung von Kinderlosen.
Seine Begründung: „Rentensysteme und auch das System der öffentlichen Finanzen führen im Ganzen per Saldo zu einer nennenswerten Belastung von Eltern bzw. Familien, die durch öffentliche Unterstützung von Eltern bzw. Familien bisher auch nicht annähernd aufgewogen wird.“ Heißt: Die einen haben Freiraum und Zeit, um als Kinderlose Vollzeit zu arbeiten und werden durch hohe Renten belohnt. Die anderen kümmern sich um den Nachwuchs und bekommen trotz Erziehungszeiten weniger Geld im Alter.
Dies will Werding umdrehen: Künftig sollen nur diejenigen eine Rente in Höhe des heute geltenden Rentenniveaus von gut 50 Prozent bekommen, die drei oder mehr Kinder haben. Für Kinderlose liegt die Rente viel niedriger, Eltern von ein oder zwei Kindern werden per Umlage höher eingruppiert. „Kinderlose und Eltern mit weniger als drei Kindern werden verpflichtet, eine Aufstockung ihrer Basisrente durch ergänzende private Vorsorge zu bewerkstelligen“, schreibt Werding.
Achtes Gebot: Sorgt vor!
Werdings Berechnungen zeigen: Eine ergänzende Altersvorsorge muss zur Pflicht werden. Freiwillige Versicherungen oder geförderte Policen reichen nicht aus, genug Geld fürs Alter anzusparen.
Werding will die Deutschen zu ihrem Glück zwingen – sie würden sonst dazu neigen, „Entscheidungen aufzuschieben oder durch Untätigkeit ganz zu umgehen“.
Seine Zahlen zeigen, dass nur durch eine verpflichtende Altersvorsorge Senioren wieder mehr Netto-Rente zur Verfügung steht – ab etwa 2040 sogar mehr als heute.
Neuntes Gebot: Lasst Ältere ran!
Eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit ist nichts wert, wenn sie nicht Über-55-Jährige auch in Lohn und Brot hält oder bringt. Denn ansonsten ist es eine reine monetäre Rentenkürzung.
Hier sieht Werding die Arbeitgeber in der Pflicht: „Diese müssen ihre Produktionsabläufe altersgerecht anpassen und die gesamte Personal- und Nachfolgeplanung darauf einstellen.“ Die Politik müsse „sicherlich drauf schauen“, dass diese Vorgaben auch umgesetzt werden.
Werding sieht „ermutigende Anzeichen“, sieht aber trotzdem „Raum für einen weiteren langfristigen Anstieg, der die Entwicklung des gesetzlichen Rentensystems günstig beeinflussen würde“.
Zehntes Gebot: Ihr sollt Schröder und Rürup ehren!
Der Umbau des Rentensystems durch SPD-Kanzler Gerhard Schröder und seinen Rentenexperten Bert Rürup hat viel Kritik geerntet. Vor allem die Einführung von Faktoren, die den Anstieg der Renten dämpfen sollen, wird auch heute noch kritisiert.
Kein Wunder, ist es doch zum Beispiel der Nachhaltigkeitsfaktor, der unter anderem dazu führt, dass heuer die Renten in Westdeutschland nur minimal erhöht werden. Der Nachhaltigkeitsfaktor bremst seit 2004 den Anstieg der Renten, wenn die Zahl der Rentner schneller steigt als die Zahl der Beitragszahler.
Der Sozialverband VdK und der DGB fordern eine Abschaffung oder Aussetzung dieses Faktors. Das sieht Werding anders. Zwar würde die Streichung tatsächlich das Rentenniveau nicht so stark absinken lassen – es würde etwa bei 47 Prozent gebremst werden. Dafür würde aber die Höhe des Rentenbeitrags explodieren: „Er müsste schon ab 2016 steigen und würde 2060 die 30-Prozent-Marke überschreiten."
Die Studie, die die AZ hier auf plakative Weise zusammengefasst hat, wurde im Auftrag der Bertelsmann Stiftung von Martin Werding erstellt. Der 49-Jährige ist seit fünf Jahren Professor für Sozialpolitik und Sozialökonomie an der Ruhr-Universität Bochum.
Zuvor hatte er in München Philosophie und Volkswirtschaftslehre studiert und an der Uni Passau an den Lehrstühlen für Wirtschafts- und Sozialpolitik sowie für Finanzwissenschaft gearbeitet. Dann leitete er acht Jahre den Bereich Sozialpolitik und Arbeitsmärkte am Münchner ifo-Institut. Die Bertelsmann Stiftung engagiert sich laut Selbstverständnis für Gemeinwohl, Wettbewerb und bürgerschaftliches Engagement.
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