Nicht unser Verdienst

9. 11. 1989: Kohl war in Warschau, Merkel in der Sauna: Georg Thanscheidt, der stellvertretende Chefredakteur der AZ, über den Mauerfall.
von  Abendzeitung

9. 11. 1989: Kohl war in Warschau, Merkel in der Sauna: Georg Thanscheidt, der stellvertretende Chefredakteur der AZ, über den Mauerfall.

Zum 20. Jahrestag des Mauerfalls ist der Jubel besonders laut: Merkel preist den Tag als „glücklichsten Tag der jüngeren deutschen Geschichte“, aus unerfindlichen Gründen singen Bon Jovi vor dem Brandenburger Tor und 1000 Domino-Steine fallen in Berlins Mitte. So inszeniert Deutschland also seine Freude über das Vorspiel zur deutschen Einheit, das am 9. November 1989 begann.

Die Freude über die wiedergewonnene Freiheit im Osten Deutschlands ist berechtigt, die Begeisterung über die Einheit wird hingegen bis heute durch Transferleistungen von West nach Ost in Höhe von 1,6 Billionen Euro getrübt. Hinzu kommen ärgerliche Äußerungen von Polit-Nostalgikern auf beiden Seiten der ehemaligen deutschdeutschen Grenze: Die einen diskutieren ernsthaft, ob in der DDR-Diktatur wirklich alles schlecht war und erinnern sich wehmütig an Plaste, Elaste und volkseigene Betriebe. Die anderen sind noch immer dem Denken der westdeutschen Rest- Republik verhaftet – für sie ist ein Leben außerhalb des Bundes-Raumschiffs Bonn immer noch unvorstellbar und der Nato-Doppelbeschluss das Schlüsselerlebnis ihrer politischen Sozialisation.

Auch 20 Jahre nach dem Fall der Mauer wagen viel zu wenige den Weg aus dieser ost-westlichen Kuschel- Nische, aus der Komfort-Zone der alten Gewissheiten. Auch das ist aus der Dynamik der Ereignisse des 9. November zu erklären: Es war ja zunächst nicht das Volk, das im Osten „Wir sind das Volk“ skandierte. Sondern mutige Bürgerrechtler, die mit Rückhalt der Kirchen Reise- und Meinungsfreiheit forderten. Sie ebneten den Weg für die friedliche Revolution, während Bundeskanzlerin Angela Merkel den Abend des Mauerfalls in der Thälmann-Sauna verbrachte. Sie wurde Bundeskanzlerin, die Wortführer der Wende wurden mit dem Etikett „ostdeutscher Sonderling“ versehen und von der bundesdeutschen Parteienlandschaft absorbiert.

Auch bei den West-Politikern stand die deutsche Einheit 1989 nicht auf der Agenda: Kanzler Kohl war am Tag des Mauerfalls in Warschau, SPD-Vize Oskar Lafontaine hatte nichts Besseres zu tun, als vor einer „nationalen Besoffenheit“ zu warnen. So gesehen sollte man den Fall der Mauer gerade heute als das würdigen, was er im Wesentlichen ist: Ein Verdienst der ostdeutschen Bürgerrechtsbewegung.

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