Münchner Rentner über ihr Leben im Ruhestand

Emma Hackl und Agathe Kopp kennen das Gefühl, durch ein tiefes Tal zu gehen. Die Münchnerinnen engagieren sich – und haben sich selbst geholfen
Matthias Maus |
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Agathe Kopp und Emma Hackl (r.): Sie engagieren sich und helfen so sich und anderen.
Petra Schramek Agathe Kopp und Emma Hackl (r.): Sie engagieren sich und helfen so sich und anderen.

MÜNCHEN Emma Hackl beliebt zu scherzen: „Ich bin jetzt 18“, sagt sie und lacht still in sich hinein. Manchmal ist man erstaunt über die Fröhlichkeit, die Leute verströmen, deren langes Leben voller Schicksalsschläge ist. „Ja, als mein Mann den Schlaganfall hatte, da war mein Leben zu Ende“, hat die Münchnerin kurz zuvor erzählt. Sie hat sich dabei eine Träne aus dem Auge gewischt.

„Fünf Jahre habe ich ihn gepflegt.“ Und dann ist er gestorben. Es war das zweite Loch, in das Emma Hackl gefallen ist in kurzer Zeit. Ihr echtes Alter klingt so ähnlich wie 18. „Ich war Verkäuferin, habe dann zehn Jahre bei der Post Briefe sortiert von drei bis um acht“. Morgens? „Freilich morgens! Ihr wollts euerne Briefe doch in der Früh!“

Man spürt die Energie in Frau Hackl, die Kraft, mit der sie Herausforderungen anging, mit der sie sich aus dem tiefen Tal herausgearbeitet hat. „Ich bin jeden Tag ins Krankenhaus gefahren mit ihm“, erinnert sie sich an die letzten Jahre mit ihrem Mann. Und selbst ist sie auch krank geworden. Zwei Knieprothesen hat sie: „Wenn Sie an Mann im Rollstuhl ham, und dann kennas Eahna nimmer bückn – des is grausam.“ Und dann plötzlich war sie allein in der Wohnung: „Nix mehr zum waschen, nichts mehr zum kochen“, sagt sie. „Heut reichen mir sechs Kartoffeln für die ganze Woch.“

Nein, sie weiß nicht mehr den Tag, an dem sie beschloss, dass es so nicht mehr weitergeht. „Ich kann ja nicht immer nur rätseln oder in Kaufhäuser gehen.“ Irgendwann 2010 ist sie erstmals ins ASZ gegangen. Das Altenservice-Zentrum Schwabing-West ist eines von 32 in München, es ist eine städtische Einrichtung, die Caritas ist der Träger.

Hier fand Frau Hackl Kraft und – Freundinnen. Agathe Kopp zum Beispiel, die verteilte das Essen: „Ich hab 29 Jahre bei der Versicherung gearbeitet, acht Jahre hab ich das Kasino geleitet“. Immer schon war sie in der Gastronomie. „Unter Menschen sein“, das war ganz wichtig für sie. „Vor allem, nachdem mein Mann gestorben war: 2001 war das.“ Und das war nicht der erste Schicksalsschlag. Lange überlegt die 77-jährige, ob sie darüber reden will. Dann sagt sie es doch – ganz kurz. „Zwei Jahre vorher – meine Tochter“. Sie wurde nur 39 Jahre alt.

Auch Frau Kopp kämpft gegen die Tränen. Aber sie hat nicht so lange gewartet wie Frau Hackl: „Ich musste was tun.“ Es geht nicht ums Geld. „Ich hab eine ganz knappe Rente,“ sagt sie, und: „Es muss reichen.“ Seit zehneinhalb Jahren macht sie ehrenamtliche Arbeit im ASZ. „Ich verteil das Essen, mach Gedächtnistraining für die alten Leut.“ Zahlenrätsel und so. Aber nicht Sudoku, „Des mog I ned.“ Aber es hilft. „Es geht ja nicht jedem so gut wie mir.“

Die Arbeit, sagt Frau Kopp, „des is wie a Therapie für mich.“ „Man muss sich eine Beschäftigung suchen“, sagt Frau Kopp. „Man muss sich eine Beschäftigung suchen“ sagt Frau Hackl. „Man muss sich eine Beschäftigung suchen“, sagt Sophie Eder.

Die Sozialpädagogin ist seit vier Jahren die Leiterin des ASZ, sie kennt die Schicksale von einsamen älteren Menschen in Schwabing. „Es gibt viele, die in ein Loch fallen, die gar nicht wissen, dass sie in eine Depression schlittern.“ 15 ihrer Ehrenamtlichen besuchen ältere Menschen in Schwabing. „Manche stehen nicht mehr auf, manche vernachlässigen sich, manche haben finanzielle Sorgen“, sagt Sophie Eder, und: „Es sind mehr geworden.“

Die Frauen wissen, wovon Sophie Eder spricht: „Kennen Sie des ned“, sagt Emma Hackl zur Frau Kopp: „Da sitzt ma abends daheim und könnt nur heulen.“ Frau Kopp nickt. „Ich sag mir dann immer: Du bläde Henna, stell di ned so an“, sagt Frau Hackl. Und Frau Kopp sagt: „Die Narbe bleibt.“

Sie wollen nicht jammern, und sie wollen nicht stehen bleiben. „Wir machen Ausflüge, gehen ins Kino mit unseren Senioren.“ Beim Elan der Damen kommt einem unwillkürlich ein Fahrrad in den Sinn: Ist die Bewegung weg, dann fällt es um. „Schon,“ sagt Frau Kopp, es gibt aber auch noch die Familie: der Enkel Andreas, der telefoniert mindestens einmal die Woche mit ihr: „Und der hat neulich gesagt: ,Wenn du mal nicht mehr bist, was soll ich dann machen?“ Das Gefühl, gebraucht zu werden, „die Wertschätzung“ hält sie jung, die Damen im ASZ, die sich aus dem Loch herausgekämpft haben.

Neue Ziele suchen - das sagt der Psychologe

 

AZ: Herr Lewitan, es erwischt die meisten. Man war wichtig im Berufsleben. Plötzlich ist man im Ruhestand. Eine große Klippe?

LOUIS LEWITAN: Das ist eine große Klippe, die viele unterschätzen. Keine Regelmäßigkeit mehr, keine Projekte mehr, keine vertrauten Kollegen. Auch der finanzielle Aspekt hat eine psychologische Seite. Jede Diskussion über unsichere Renten erhöht die Existenzangst. Man muss plötzlich seinen Alltag neu organisieren, man muss mehr Eigenverantwortung entwickeln - wenn man Angestellter war. Da haben die Selbstständigen es etwas leichter. Sie sind es gewohnt, sich Ziele zu setzen und eigenverantwortlich den Tagesablauf zu strukturieren. Aber auch Selbstständige müssen sich neue Ziele suchen, die nichts mit Leistung, Geld und Einfluss zu tun haben.

Trifft das auf Männer wie Frauen gleichermaßen zu?

Daseinsberechtigung und Genugtuung aus Arbeit – das ist ein einseitiges Denken und beruht auf der klassischen Rollenverteilung. Dieses Denken ist noch eine männliche Domäne. Frauen haben eher besser gelernt, dass es mehr im Leben gibt als Arbeit: Haushalt, Kinder groß ziehen. Sie sind die besseren Multi-Tasker. Es fällt ihnen tendenziell leichter, ihrem Leben einen neuen Sinn zu geben, die Balance zu halten.

Wie begegnet man der Gefahr, mit dem Ruhestand in ein Loch zu fallen?

Indem man sich frühzeitig klar macht, dass man nicht nur zum Arbeiten auf Erden ist. Damit sollte man schon mit 50 Plus anfangen und sich Fragen stellen. Was ist der Sinn meines Lebens? Wie werde ich meine Partnerschaft neu definieren? Was ist mein Lebensmodell? Das ist anstrengend, aber auch lohnend. Viele gehen sich stattdessen selbst aus dem Weg.

Was heißt das?

Sie stellen fest, dass hinter dem vielmals ersehnten Ruhestand Ernüchterung wartet und daraus Niedergeschlagenheit und Depression folgen können. Man sollte sich selbst neu entdecken. Lebenslanges Lernen wird immer wichtiger. Geistiges Wachstum ist ein lebenslanger Prozess, der hört keinesfalls mit 50 Plus auf.

Sie verlangen viel. Lernen die Älteren nicht schwerer als die Jungen?

Sie lernen vielleicht nicht so schnell, aber mit viel Engagement und hoher Motivation. Vor allem, wenn sie ernsthaft Interesse an dem Erlernten haben und wenn sie sich aussuchen können, was sie lernen wollen.

Wie kann man sein Selbstwertgefühl steigern?

Konzentrieren Sie sich auf Ihre Stärken. Heben Sie das Positive am neuen Lebensabschnitt hervor. Akzeptieren Sie sich in Ihrer Unvollkommenheit. Nur wer sich selbst wertschätzt, kann auch andere wertschätzen. Pflegen Sie soziale Kontakte. Eigenbrötelei ist der größte Fehler.

Der Münchner Diplom-Psychologe Louis Lewitan ist Co-Autor von „Das war meine Rettung", Edel-Verlag.

 

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