Mitreißend!

"Seine Analyse spricht auch unbequeme Wahrheiten offen an": Arno Makowsky, Chefredakteur der AZ, über Barack Obamas Antrittsrede.
Was für eine Rede, was für eine Inszenierung! Das Spektakel um Barack Obamas Vereidigung zum 44. Präsidenten der USA – es fällt schwer, sich nicht von der Begeisterung, ja der Ergriffenheit, die dieses historische Ereignis auslöst, anstecken zu lassen. Wobei das eigentlich Begeisternde an Obamas Antrittsrede ist, dass er der Versuchung widerstanden hat, mit rhetorischen Effekten à la „Yes we can“ zu glänzen. Stattdessen: eine so schonungslose wie mitreißende Aufforderung an seine Nation, sich zu erneuern. Eine Analyse, die unbequemeWahrheiten anspricht – und die Amerikaner dennoch zu Jubelstürmen hinreißt.
„Wir sind eine Nation von Christen und Muslimen, Juden und Hindus – und Nichtgläubigen“, sagt Obama und bietet der muslimischen Welt „gegenseitigen Respekt“ an. Ein Satz, mit dem sich viele seiner Landsleute sicher schwertun. Er kritisiert wirtschaftliche Gier, die schlechte Gesundheitsversorgung, die Unverantwortlichkeit gegenüber der Umwelt.
Natürlich, all das sind bis jetzt nur Worte. Aber man sollte die Kraft der Worte nicht unterschätzen. In seiner Antrittsrede skizziert ein neuer US-Präsident traditionell die Visionen seiner Politik. Nimmt man Obamas erste Rede als Programm, ist hier offensichtlich ein Präsident am Start, der den Problemen mit Toleranz und Offenheit begegnen will. Nach acht Jahren Bush-Regierung entspricht das der Sehnsucht vieler Menschen. Sind sie deshalb blauäugig? An einem solchen Tag ist ein wenig Pathos erlaubt – die Ernüchterung kommt bald von selbst.